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09.01.2024 |

Benötigt, begehrt, degradiert: Bodenatlas fordert mehr Bodenschutz

Boden
Böden haben viele Funktionen (Foto: CC0)

Gesunde Böden sind für unsere Ernährung und die Bewältigung der Klima- und Biodiversitätskrise von elementarer Bedeutung, doch der Zustand dieser überlebenswichtigen Ressource verschlechtert sich zunehmend – sei es weltweit, in Europa oder auch Deutschland. Land wird zu einer immer härter umkämpften Ressource und die ungleiche Verteilung von Boden ist nicht selten Ursache für Konflikte und Gewalt. Auf diese Zusammenhänge macht der Bodenatlas 2024 aufmerksam, der am 9. Januar von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Forschungsorganisation TMG - Think Tank for Sustainability veröffentlicht wurde. „Mit diesem Atlas wollen wir auf eine Ressource aufmerksam machen, die bei der Bewältigung vieler globaler Krisen eine Schlüsselfunktion innehat: unsere Böden“, schreiben die Leiter*innen der drei Organisationen im Vorwort der Publikation. Gerade in der internationalen Klimadebatte komme Böden zunehmend eine Schlüsselrolle zu, wodurch sich die Verteilungskonflikte um Land zuspitzten und dabei gerade jene oft den Kürzeren ziehen, deren Lebensunterhalt von Böden abhängt. „Weltweit hungern immer mehr Menschen. Das Ziel, den Hunger bis 2030 zu überwinden, ist in weite Ferne gerückt. Menschen in ländlichen Regionen sind besonders betroffen. Für sie ist der Zugang zu gesunden, fruchtbaren Böden ein zentraler Faktor, um sich aus Hunger und Armut zu befreien“, betonen die Herausgeber*innen.

Der Bodenatlas 2024 liefert auf 50 Seiten viele Zahlen, Daten und Fakten rund um das Thema Boden, unterfüttert mit 53 Grafiken sowie Quellenangaben. 2015 erschien die erste Ausgabe, doch seither hat sich einiges getan. Die ersten Kapitel streichen zunächst die Funktionen des Ökosystems Boden als Grundlage des Lebens heraus. „Ohne Boden und seine unschätzbar wertvollen Eigenschaften ist unser Dasein nicht denkbar“, heißt es dort. Eine Grafik beleuchtet den Artenreichtum unter der Oberfläche, wo sich unzählige Tiere und Mikroorganismen tummeln. „Unter einem Hektar Land leben 15 Tonnen Bodenlebewesen – das entspricht dem Gewicht von 20 Kühen. Eine Handvoll Boden kann mehr Lebewesen enthalten, als Menschen auf der Erde leben“, illustriert der BUND-Vorsitzende Olaf Bandt diese Vielfalt. Zudem dienen Böden als natürliche Wasserspeicher und können so die Auswirkungen der Klimakrise wie Trockenheit, Starkregen und Überschwemmungen abmildern – aber eben nur, wenn sie intakt sind. Böden speichern bis zu 3.750 Tonnen Wasser pro Hektar und geben dieses nach Bedarf wieder ab, erklärt Dr. Imme Scholz, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, anlässlich der Veröffentlichung des Atlas. Aber der Flächenfraß für Infrastruktur, Industrie und Wohnraum bedingt, dass Boden als Wasserspeicher verloren geht. „Durch Versiegelung, aber auch industrielle Formen der Landwirtschaft geht die Fähigkeit von Böden, Wasser aufzunehmen, zurück – mit verheerenden Folgen, wie wir aktuell an der Hochwasserkatastrophe in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sehen“, so Dr. Scholz.

Die Kapitel zu Bodendegradation und Desertifikation blicken auf den aktuellen Zustand unserer Böden. Weltweit nimmt die Bodendegradation seit Jahrzehnten zu und circa ein Viertel der globalen, eisfreien Landfläche ist von menschlich verursachter Degradation betroffen. Auf landwirtschaftlich genutzten Flächen ist die Lage noch viel dramatischer: mehr als ein Drittel gelten als degradiert. In der Europäischen Union sind mittlerweile über 60% der Böden geschädigt. Jährlich gehen in der EU bereits jetzt ungefähr eine Milliarde Tonnen Boden aufgrund von Erosion durch Wasser verloren. Geschätzte Kosten: etwa 1,25 Milliarden Euro jährlich durch den Verlust an landwirtschaftlicher Produktivität. Doch auch die extremste Form von Bodendegradation, die Desertifikation, ist längst nicht mehr nur ein Problem in Afrikas Sahelzone oder den Wüsten Asiens – auch in Europa entstehen unfruchtbare, wüste Landschaften. Dr. Scholz verweist darauf, dass die Wüstenbildung durch intensive Landwirtschaft und die Klimakrise zunehme – auch in Europa: „Dreizehn EU-Mitgliedstaaten sind mittlerweile betroffen. Und zwar nicht nur Südeuropa, sondern auch Länder mit gemäßigtem und feuchtem Klima wie Ungarn und Bulgarien.“ Insgesamt sind 23% des Gebiets der EU moderat und 8% hoch bis sehr hoch empfindlich gegenüber Wüstenbildung. Meist ist Spanien im Blick der Berichterstattung, wo immer mehr Wasser für den Anbau von Obst und Gemüse für den europäischen Markt genutzt wird: Zwischen 2010 und 2016 habe sich der Grundwasserverbrauch für die Bewässerung hochprofitabler Produkte wie Erdbeeren, Salat oder Brokkoli von 4% auf 22% mehr als verfünffacht, heißt es im Atlas. Auch in Deutschland weist mindestens ein Fünftel der landwirtschaftlichen Flächen sehr starke Bodenerosion auf.

Im Zentrum des Bodenatlasses stehen auch die Nutzungskonflikte, die sich in puncto Boden ergeben. Ein Kapitel widmet sich dem schon lange diskutierten Dilemma Teller oder Futtertrog und hebt die Vorteile einer auf pflanzlichen Produkten basierten Ernährung hervor, die es ermöglicht, die Flächen für Futtermittel anderweitig zu nutzen und so Umwelt und Klima zu schonen. Auch Land Grabbing, der Kampf um fruchtbares Ackerland, der für die lokale Bevölkerung oft in Vertreibung und Armut mündet, ist Thema des aktuellen Bodenatlas. Hier wird aufgezeigt, dass auch Deutschland an dieser Landnahme beteiligt ist, während hierzulande zugleich der Run auf Land zunimmt, wobei kleine und mittlere Betriebe zunehmend unter die Räder kommen. Eine sich verstärkende Tendenz ist der Kampf um Boden im Namen des Klimaschutzes: „Aufgrund der Fähigkeit von Böden, das Klimagas CO2 zu speichern, und des Flächenbedarfs für Klimaschutzmaßnahmen wie etwa Aufforstung erlangen Böden eine immer größere Bedeutung in der internationalen Klimadebatte“, erklärt Dr. Jes Weigelt, stellvertretender Geschäftsführer von TMG. „Denn Böden sind die größten CO2-Speicher an Land. Gleichzeitig benötigen die geplanten Klimaschutzmaßnahmen aller Länder rechnerisch 1,2 Milliarden Hektar Land – eine Fläche dreimal so groß wie die EU.“ Eine Zunahme an Konflikten um Land und Boden sei daher vorprogrammiert. „Um dem Netto-Null-Ziel näher zu kommen, müssen auf etwa 550 Millionen Hektar beschädigte Ökosysteme restauriert werden – und auf etwa 630 Millionen Hektar wird voraussichtlich eine Änderung der Landnutzung erforderlich“, heißt es im Kapitel „Benötigter, begehrter, umkämpfter Boden“. Dies bedeute etwa die Umwandlung von Agrar- in Forstland, wodurch die bestehenden Landrechte von Bäuer*innen, Hirt*innen und indigenen Gemeinschaften verletzt werden könnten, wie es bei großen Klimaprojekten in der Vergangenheit bereits geschah. „Nur wenn politisch kohärente, auf den Menschenrechten basierende Maßnahmen zu Nutzung und Erhalt der Böden entwickelt werden, können wir diese Konflikte verhindern und gleichzeitig die Klimaziele erreichen“, betont Weigelt.

All das und noch viele weitere Kapitel und Themen sind in der Broschüre enthalten, die auf den Webseiten der Herausgeber heruntergeladen oder als Druckexemplar bestellt werden kann. Doch die Autor*innen bemängeln nicht nur den Status quo, sondern liefern auch Anregungen, was getan werden kann, um die Böden fruchtbar zu halten oder wiederherzustellen. „Agrarökologische Methoden der Landwirtschaft fördern nachhaltig die Bodenfruchtbarkeit“, betont Dr. Scholz. „Agrarökologische Betriebe haben zudem eins gemeinsam: Sie erhöhen die Unabhängigkeit und Resilienz der Betriebe.“ Die Herausgeber mahnen im Vorwort, dass national und international neue Wege zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung von Böden gefunden werden müssen. „Deutschland hat auf dem Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen im Jahr 2015 in New York die Agenda 2030 mit verabschiedet. Eines der dort beschlossenen Nachhaltigkeitsziele lautet, den neu entstehenden Verlust an fruchtbaren Böden auszugleichen.“ Bei der anstehenden Novellierung des Bundesbodenschutzgesetzes müsse daher das Vorsorgeprinzip und der Schutz vor einer Verschlechterung des Bodenzustands stärker berücksichtigt werden, fordern sie. Olaf Bandt verweist darauf, dass Landwirt*innen besser beim Bodenschutz unterstützt werden sollten. Auch die Gemeinsame Agrarpolitik als Förderinstrument der EU müsse Ökosystemleistungen auch für den Boden zukünftig stärker honorieren. „Nachhaltige Flächennutzung kommt nicht nur der Natur zu Gute, sondern schützt unsere Lebensgrundlage Boden und erhöht die Resilienz gegenüber Auswirkungen der Klima- und Biodiversitätskrise“, so Bandt. (ab)

23.12.2023 |

COP28-Bilanz: Was zu Landwirtschaft und Ernährung auf den Tisch kam

Wind
Hat es die Landwirtschaft endlich auf die globale Klima-Agenda geschafft? (Foto: CC0)

Nach zwei Wochen langwieriger Verhandlungen endete am 13. Dezember die Weltklimakonferenz mit einer Einigung. Der Präsident der COP28, Dr. Sultan Al Jaber, lobte diese als „historische Leistung“, übermüdete Delegierte und Beobachter*innen gaben noch fix ihre ersten Statements ab, bevor sie zum Flieger hasteten, und die Presse ließ sich über Stärken und Schwächen der Abschlusserklärung aus. In den darauffolgenden Tagen veröffentlichten zahlreiche Organisationen und Expert*innen dann ausführlichere Analysen der Ergebnisse und schilderten ihre Erlebnisse in Dubai. Dass in der Abschlusserklärung die Abkehr von fossilen Energieträgern angestrebt wird, feierten viele als Erfolg und den Anfang vom Ende des fossilen Zeitalters, während andere beklagten, dass der klare Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen versäumt wurde, auch wenn sich viele Länder dafür stark gemacht hatten. Obwohl Agrar- und Ernährungssysteme für mindestens ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich sind, wurden Landwirtschaft und Ernährung bisher bei Klimaverhandlungen gern stiefmütterlich behandelt. Der Beitrag von Ernährung und Landwirtschaft zum Klimawandel oder aber auch die entscheidende Rolle, die der Agrarsektor bei der Begrenzung desselben spielen könnte, fanden in den Abschlusserklärungen der Klimakonferenzen keine Erwähnung. Dieses Jahr nahm das Thema jedoch eine zentralere Stellung ein. Die Konferenz wurde gar als „Food Cop“ bezeichnet, was nicht nur angesichts der in Dubai in Scharen vertretenen Lobbyisten der Agrar- und Ernährungsindustrie ein treffender Beiname war: Die Konferenz begann mit einer Erklärung zu nachhaltiger Landwirtschaft, widmete einen ganzen Tag sowie zahlreiche Pavillons und Veranstaltungen den Themen Ernährung, Landwirtschaft und Wasser, bot den Rahmen für die Präsentation einen globalen Fahrplans zur Beseitigung von Hunger und allen Formen der Unterernährung unter Einhaltung des 1,5°C-Ziels und endete mit einem Abschlussdokument, das nachhaltige Landwirtschaft und widerstandsfähige Ernährungssysteme zumindest erwähnte.

Zahlreiche Beobachter*innen betrachteten das Glas als eher halb leer in Anbetracht der fehlenden Verbindlichkeit der Erklärungen und Dokumente. „Dies sollte die ernährungszentrierte COP sein, aber die Schlussfolgerungen waren weder für die Zukunft der Ernährungssysteme noch für die Begrenzung der Auswirkungen des Klimawandels gut“, kommentierte etwa Edward Mukiibi, Präsident von Slow Food. Er prangerte das Fehlen konkreter und verbindlicher Ziele, den Einfluss der großen Emittenten im Landwirtschaftssektor auf die Konferenz und die Vertagung der Diskussionen zur Umgestaltung der Ernährungssysteme auf die nächsten Treffen an. Danielle Nierenberg, Präsidentin der US-NGO Food Tank, hatte sich zwar auch verbindlichere Formulierungen und Ziele gewünscht, für sie ist das Glas aber halb voll: „Es ist wirklich aufregend, dass das Thema Ernährung nun endlich auf den Tisch kommt. Jetzt haben wir die Chance, auf eine Art und Weise über das Potenzial zu sprechen, das Ernährungssysteme für die Lösung der Klimakrise haben, wie noch nie zuvor“, sagte sie The Guardian. Auch Brent Loken, Global Food Lead Scientist beim WWF, mit dem Nierenberg nach Ende der Konferenz ein Interview führte, vertritt die Ansicht, dass diese COP zwar nicht perfekt war, aber greifbare Fortschritte erzielt wurden, was die Anerkennung der zentralen Rolle von Lebensmittelsystemen auf internationaler Ebene anbelangt: „Endlich haben wir ein Fundament, auf dem wir stehen – und auf dem wir aufbauen können.

Was genau also tat sich in Dubai in puncto Landwirtschaft und Ernährung und wie stehen Expert*innen und Nichtregierungsorganisationen dazu? Das 21-seitige Abschlussdokument ist die globale Bestandsaufnahme (Global Stocktake - GST). Der Global Stocktake-Prozess wurde im Pariser Abkommen von 2015 vereinbart und ist eine Bilanz der Fortschritte bei der Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen, die alle fünf Jahre zu ziehen ist. Das COP28-Abschlusspapier ist die erste Runde und die Regierungen haben nun zwei Jahre Zeit, ihre Klimaschutzpläne nachzujustieren und der UN ihre nationalen Klimabeiträge (NDCs) vorzulegen. Der „First Global Stocktake“ ist ein Kompromiss - der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle 196 Länder einigen konnten. Die Konferenz „erkennt die Gewährleistung von Ernährungssicherheit und die Beendigung des Hungers als grundlegende Priorität an und bestätigt die besondere Anfälligkeit von Lebensmittelproduktionssystemen für die negativen Folgen des Klimawandels“. Sie „ermutigt zur Umsetzung integrierter, sektorübergreifender Lösungen, wie Landnutzungsmanagement, nachhaltiger Landwirtschaft, widerstandsfähigen Ernährungssystemen, naturbasierten Lösungen und ökosystembasierter Anpassung“. Die Staaten werden aufgefordert, mit mehr Ehrgeiz ihre Anpassungsmaßnahmen zu verstärken, um „eine Lebensmittel- und Agrarproduktion sowie Versorgung und Verteilung von Lebensmitteln zu erreichen, die widerstandsfähig gegenüber dem Klimawandel ist, und die nachhaltige und regenerative Produktion von und den gerechten Zugang zu angemessener Nahrung und Ernährung für alle zu verstärken“.

Slowfood beschrieb die globale Bestandsaufnahme als „weitgehend bedeutungslos, mit nur einer Erwähnung der Ernährungssysteme im Abschnitt über die Anpassungsmaßnahmen, aber ohne Berücksichtigung im Abschnitt bezüglich der geplanten Eindämmungsbemühungen“. Auch Yvette Cabrera, Expertin für Lebensmittelverschwendung bei der US-Umweltorganisation Natural Resources Defense Council, beklagte diesen Punkt gegenüber dem Guardian. Die Anpassung an den Klimawandel sei „sehr wichtig, weil wir unbedingt herausfinden müssen, wie unser zukünftiges Ernährungssystem aussieht, und darauf vorbereitet sein müssen“, sagte sie, aber „wir müssen auch Schritte unternehmen, um die Emissionen, die jetzt entstehen, zu mindern“. Andere äußerten sich noch unverblümter: „Dass im endgültigen COP28-Text keine Maßnahmen bezüglich des Ernährungssystems enthalten sind, ist ein eklatanter Verrat angesichts der Dringlichkeit“, schrieb Emile Frison, ein Experte des Internationalen Expertengremiums für nachhaltige Lebensmittelsysteme (IPES-Food), in einem Beitrag auf Twitter/X. „Zu ignorieren, dass ein Drittel der Treibhausgasemissionen in Ernährungssystemen verursacht werden, ist ein gefährliches Versäumnis. Wir können uns kein weiteres verlorenes Jahr der Untätigkeit im Bereich Ernährung und Klimaschutz leisten.“ Brent Loken stuft den GST eher als Gewinn ein. „Im endgültigen Text (…) werden Ernährungssysteme in der Tat erstmalig in einem derart breit aufgestellten UNFCCC-Dokument anerkannt. Zugegebenermaßen gelten die meisten Verweise auf Ernährungssysteme der Anpassung und nicht der Abmilderung des Klimawandels und die meisten mit Ernährung in Verbindung stehende Verweise im Abschnitt über die Abmilderung betreffen die nachhaltige Produktion und Konsum und enthalten keine Analyse auf Systemebene“, sagte er Nierenberg und räumte ein, dass internationale Führungspersönlichkeiten noch einen langen Weg vor sich haben, bis sie die entscheidende Rolle von Ernährungssystemen bei der Lösung des Klimakrise zu erkennen. „Aber die globale Food-Bewegung hat es geschafft, in nur wenigen Jahren das Bewusstsein für das Thema Ernährung zu schärfen.“

Doch zurück zum Beginn der Konferenz, zu deren Auftakt die COP28-Präsidentschaft am 1. Dezember stolz die Unterzeichnung der „Emirates Declaration on Sustainable Agriculture, Resilient Food Systems, and Climate Action“ durch 134 Staats- und Regierungschef verkündete – darunter auch die USA und China. „Die COP28-Präsidentschaft setzt die Transformation der Ernährungssysteme auf die globale Klima-Agenda“, war die Pressemitteilung überschrieben. Sie wies darauf hin, dass in den 134 Ländern mehr als 5,7 Milliarden Menschen und fast 500 Millionen Landwirt*innen leben, die 70% unserer Lebensmittel produzieren und für 76% aller Emissionen des globalen Ernährungssystems bzw. 25% aller Emissionen weltweit verantwortlich sind. Inzwischen ist die Zahl der Unterzeichner auf 159 gestiegen. Die nicht verbindliche Erklärung erkennt das große Potenzial der Agrar- und Ernährungssysteme an, wirksame Antworten auf den Klimawandel zu geben, und die Unterzeichner bekunden das Vorhaben, Ernährung und Landwirtschaft in ihre Klimapläne zu integrieren. Die Länder erklärten zudem ihre „Absicht, auf das Ziel hinzuarbeiten, Aktivitäten und Maßnahmen zu Anpassung und Resilienz zu verstärken, um die Anfälligkeit aller Landwirte, Fischer und anderer Lebensmittel-Produzenten gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels zu verringern, unter anderem durch finanzielle und technische Unterstützung für Lösungen, Kapazitätsaufbau, Infrastruktur und Innovationen, einschließlich Frühwarnsysteme, die eine nachhaltige Ernährungssicherheit, Produktion und Ernährung fördern und zugleich die Natur erhalten, schützen und wiederherstellen“. Ein weiteres Ziel ist die Förderung von „Ernährungssicherheit und Ernährung durch verstärkte Anstrengungen zur Unterstützung vulnerabler Gruppen mit Ansätzen wie sozialen Sicherungssystemen und Auffangnetzen, Schulspeisung und öffentlichen Beschaffungsprogrammen“.

Darüber hinaus sollen Arbeiter*innen in Agrar- und Ernährungssystemen unterstützt und die integrierte Bewirtschaftung von Wasser in diesen Systemen gestärkt werden. Die Staaten beabsichtigen auch, „den Klima- und Umweltnutzen von Agrar- und Ernährungssystemen zu maximieren und zugleich die schädlichen Auswirkungen einzudämmen und zu verringern, indem sie Land und natürliche Ökosysteme erhalten, schützen und wiederherstellen, die Bodengesundheit und die Artenvielfalt verbessern und von Praktiken mit hohen Treibhausgasemissionen zu nachhaltigeren Produktions- und Konsumansätzen übergehen, unter anderem durch die Verringerung von Lebensmittelverlusten und -abfällen.“ Zudem versprechen die Staaten, ihre „jeweiligen und gemeinsamen Bemühungen um ein breites, transparentes und inklusives Engagement zu verstärken, soweit es ihrem nationalen Kontext angemessen ist, um Agrar- und Ernährungssysteme in ihre nationalen Anpassungspläne zu integrieren“ und „Politiken und öffentliche Förderung im Zusammenhang mit Landwirtschaft und Ernährungssystemen zu überarbeiten oder neu auszurichten, um die Ziele der Erklärung zu erreichen“. Die Unterzeichner erklärten sich auch bereit, „den Zugang zu allen Formen der Finanzierung der öffentliche Hand, von Stiftungen und dem Privatsektor, auszuweiten und zu verbessern, um Agrar- und Ernährungssysteme an den Klimawandel anzupassen und zu transformieren“. Wie die zitierten Passagen zeigen, ist alles sehr vage formuliert und viele Expert*innen fürchten, dass es die unspezifische Terminologie der Agrar- und Ernährungsindustrie erlaubt, Greenwashing zu betreiben, statt einen echten Beitrag zur Abmilderung des Klimawandels zu leisten. Konkrete Zielvorgaben und Maßnahmen fehlen. Jan Sebastian Friedrich-Rust, Geschäftsführer von Aktion gegen den Hunger, eine humanitäre und entwicklungspolitische Hilfsorganisation, beklagt, dass die Gelegenheit verpasst wurde, den Wandel unserer globalen Landwirtschaft konsequent voranzutreiben. „Um alle Menschen auf diesem Planeten krisensicher ernähren zu können, brauchen wir ökologische, klimafreundliche und lokale Ernährungssysteme. Die nicht-bindende Erklärung zu Thema Landwirtschaft und Ernährung reicht nicht aus, um eine nachhaltige und faire Veränderung anzustoßen und das Recht auf Nahrung für alle zu sichern, zumal inklusive und transformative Konzepte wie Agrarökologie nicht erwähnt werden“, so Friedrich-Rust.

Was tat sich noch auf der COP28? Mehr als 200 Veranstaltungen konzentrierten sich auf Ernährung und Landwirtschaft und am 10. Dezember wurde erstmals auf einer UN-Klimakonferenz ein gesamter Tag dem Themenkomplex Ernährung, Landwirtschaft und Wasser gewidmet. Diese Gelegenheit nutzte die Welternährungsorganisation FAO, um ihren globalen Fahrplan zur Erreichung des zweiten UN-Nachhaltigkeitsziels (SDG2) ohne Überschreitung der 1,5°-Grad-Schwelle vorzustellen. Darin legt sie eine Strategie für die nächsten drei Jahre mit Lösungen für zehn Handlungsbereiche dar: saubere Energie, Nutzpflanzen, Fischerei und Aquakultur, Lebensmittelverluste und -verschwendung, Wälder und Feuchtgebiete, gesunde Ernährung, Tierhaltung, Boden und Wasser sowie Daten und integrative Politiken. Was die Treibhausgase von Agrar- und Ernährungssystemen anbelangt, so sollen diese bis 2030 um 25% gesenkt werden, bis 2035 soll CO2-Neutralität erreicht sein, während die Halbierung von Lachgas-Emissionen bis 2040 und die von Methan bis 2045 erfolgen soll. 2050 soll der Agrifood-Sektor dann eine Netto-Kohlenstoffsenke sein und 1,5 Gigatonnen CO2-Äquivalent pro Jahr speichern. Der Fahrplan will außerdem den Weg aufzeigen, wie chronische Unterernährung bis 2030 beseitigt und der Zugang zu gesunder Ernährung für alle bis 2050 erreicht werden kann. Er empfiehlt die Diversifizierung der Anbauprodukte und eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten. „Es geht nicht darum, ob sich die Ernährungsgewohnheiten ändern sollten – denn das müssen sie für die Gesundheit der Menschen und des Planeten unbedingt –, sondern darum, wie dies erzielt werden kann.“ Klare Empfehlungen zur Senkung des Fleischkonsums sucht man in dem Dokument aber vergeblich – im Kapitel Tierhaltung ist vor allem von einer verbesserten Effizienz der Produktion die Rede. Das Kapitel Lebensmittelverluste und -verschwendung nennt als bis 2030 zu erreichenden Meilenstein unter anderem die Verringerung der globalen Lebensmittelverschwendung um 50% pro Kopf auf Handels- und Verbraucherebene.

Yvette Cabrera hofft, dass der Fahrplan trotz fehlender Verbindlichkeit den Ländern ein Gefühl dafür vermitteln kann, wie sie Ernährungssysteme besser in ihre Klimaziele einbinden können. Laut Dr. Sophia Murphy, Leiterin des Institute for Agriculture and Trade Policy (IATP), bietet der Fahrplan „einen willkommenen Schwerpunkt auf das Recht auf Nahrung inmitten der Kakofonie an Interessen der Lebensmittelindustrie, die über die COP hereingebrochen ist“. Sie spielt damit auf die Tatsache an, dass dreimal mehr Lobbyisten für Fleisch- und Milchkonzerne an der COP28 teilnahmen als an der vorherigen Konferenz und dass Lobbyisten gar Teil der nationalen Delegationen waren. Murphy zeigte sich dennoch enttäuscht, dass der Bericht es versäumt, die großen Agrarkonzerne zu echten Emissionsreduzierungen aufzufordern, gerade in den reichen Ländern, wo die Verringerung der Methan- und Lachgasemissionen aus der industriellen Tierhaltung ein recht einfach erreichbares Ziel mit enormen Nebeneffekten für die biologische Vielfalt, die Wirtschaft im ländlichen Bereich und eine gesunde Ernährung wäre. Die Reduzierung des Methanausstoßes in der Landwirtschaft stuft der Fahrplan zwar als zentral ein, aber er führe nur Lösungen an, die „auf einem an Fantasie grenzenden Techno-Optimismus basieren“. Als Beispiel nennt Murphy den Lösungsvorschlag, durch Futtermittelzusätze den Methanausstoß aus der enterischen Fermentation von Wiederkäuern zu reduzieren, dessen Umsetzung im großen Stil sie in der Kürze der Zeit, die für das Erreichen des Methanziels bleibt, für unrealistisch hält. Optionen, wie die sofortige Einführung von strikteren Auflagen in der industriellen Tierhaltung, fehlten hingegen völlig. „Der einfachen Idee, sich in den Industrieländern mit weniger zu begnügen und zugleich eine erhöhte und effizientere Produktionen in den Ländern anzuregen, in denen mehr Lebensmittel benötigt werden, wird ausgewichen. Die Folgen einer globalen Transformation der Ernährungssysteme müssen klar auf den Tisch gepackt und nicht nur angedeutet werden“, so Murphy.

Eine weitere Enttäuschung war das Scheitern der Gespräche über die Initiative „Sharm el-Sheikh Joint Work on Implementation on Agriculture and Food Security“ (SSJW), ein auf der COP27 beschlossener Vierjahresprozess. Die Verhandlungen wurden am 5. Dezember ohne substanzielle Ergebnisse abgeschlossen, und die Verhandlungen über die Umsetzung der auf der COP27 eingegangenen Verpflichtungen werden erst im Juni 2024 wieder aufgenommen, 18 Monate nachdem die SSJW ins Leben gerufen wurde. Brent Loken sagte, dies sei „weit entfernt von dem mehrjährigen Strategieplan, wo erhofft worden war, dass die Verhandlungsführer ihn während der COP28 erstellen würden“. Auch Joao Campari, Leiter der Global Food Practice der Umweltschutzorganisation WWF. bezeichnete die Tatsache, „dass die Verhandlungen über das Sharm el-Sheikh Joint Work zu keiner Einigung geführt haben“, als „zutiefst enttäuschend“. Es gefährde die kollektive Fähigkeit, die notwendigen Klima-, Natur- und Entwicklungsziele zu erreichen. Auch in der Pressemitteilung des Thünen-Instituts schwang zwischen den Zeilen Enttäuschung mit, dass „trotz intensiver Diskussionen zwischen den Vertragsstaaten und innerhalb des EU-Teams“ es bisher keine Einigung gab, wie das SSJW-Arbeitsprogramm konkret ausgestaltet werden kann. „Aus wissenschaftlicher Sicht ist unumstritten, dass die Landwirtschaft große Bedeutung für den Klimaschutz hat, und ebenso, dass sich die Landwirtschaft an die sich ändernden klimatischen Bedingungen anpassen muss“, sagte Claudia Heidecke von der Thünen-Stabsstelle Klima und Boden, die die Delegation des Bundeslandwirtschaftsministeriums in Dubai begleitet. Wie und wo man dies in den Verhandlungsthemen adressiere, sei aber eine andere Frage. „Hier kommen viele Erwartungen und Forderungen zusammen“, sagte sie. Laut Kirubel Tadele, Kommunikationsbeauftragter von AFSA, einem breiten Bündnis der afrikanischen Zivilgesellschaft, signalisiert der Aufschub „eine besorgniserregende Verzögerung bei der Bewältigung der dringenden klimatischen Herausforderungen für die afrikanische Landwirtschaft und untergräbt auf kritische Weise das Potenzial für sinnvolle Klimamaßnahmen in einem Sektor, der für das Überleben und die Widerstandsfähigkeit Afrikas von entscheidender Bedeutung ist“.

Bei all dem Gerede über nachhaltige Landwirtschaft und naturbasierte Lösungen waren Befürworter*innen der Agrarökologie zutiefst enttäuscht, dass diese weder Eingang noch Erwähnung in die einschlägigen Dokumente gefunden hat. „Die Agrarökologie wurde erwartungsgemäß ausgeklammert und tauchte in den politischen Diskussionen weder als Schlüsselelement auf, noch wurde sie als die Lösung genannt, die es uns ermöglichen wird, den Kurs zu ändern und den Klimawandel zu bekämpfen“, sagte Edward Mukiibi von Slow Food. Das IATP beklagte zudem, dass „trotz der Tatsache, dass die Lebensmittelsysteme auf der COP28 im Mittelpunkt standen, die abschließenden Entscheidungen wenig über die dringende Notwendigkeit eines transformativen Wandels hin zu Agrarökologie sagten“. Auch Anika Schroeder vom katholischen Hilfswerk Misereor zeigte sich enttäuscht über das Ergebnis: „Die sogenannte ‚Food COP‘ hat sich als Greenwashing-Veranstaltung mit vielen mutigen Bekenntnissen zu klimafreundlicheren Landwirtschafts- und Ernährungssystemen entpuppt. Unverbindliche Erklärungen und Aussagen, die den großen Elefanten im Raum – das stark auf fossilen Brennstoffen basierende Nahrungsmittelsystem – gar nicht erst erwähnen. Ihnen fehlt eine klare Vision für die Agrarökologie, die nachweislich eine hohe Widerstandsfähigkeit und einen niedrigen CO2-Ausstoß aufbaut.“ Zumindest Brent Loken bleibt in seinem Resümee ein unverwüstlicher Optimist. Im Gespräch mit Nierenberg betonte er, dass keine Zeit mehr bleibe, um noch negativ zu sein. Es sei okay, enttäuscht zu sein, aber Enttäuschung und Negativität seien zweierlei Paar Schuhe. „Wenn wir alles zusammennehmen, sollten wir optimistisch sein.“ COP28 „gibt uns etwas, mit dem wir weiterarbeiten und für das wir uns einsetzen können, wenn es um die Umsetzung geht.“ (ab)

30.10.2023 |

Weg ist weg: Studie zum Artensterben lässt Alarmsignal erschallen

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Stark gefährdet: das Rebhuhn (Foto: CC0)

Bei der Klima- und Biodiversitätskrise handelt es sich um eine Zwillingskrise, die nur gemeinsam gelöst werden kann. Während der Klimawandel es „über eine lange Themenkarriere mit einer geradezu absurd flachen „Lernkurve“ und zu spätem Handeln“ mittlerweile „in die hohe Politik geschafft hat“, wird dem Schwund der Artenvielfalt noch nicht die notwendige Aufmerksamkeit zuteil. Obwohl Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft mit Vehemenz an die Weltgemeinschaft und Politik appellieren und zum Handeln mahnen, und trotz ehrgeiziger globaler Biodiversitäts- und Nachhaltigkeitsziele, besteht ein enormes Umsetzungsdefizit. Das ist das Fazit einer neuen Studie, die am 27. Oktober in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin und im Livestream vorgestellt wurde. In Auftrag gegeben hat sie der Agrarpolitische Sprecher der Grünen im EU-Parlament und Mitglied im Umweltausschuss, Martin Häusling. Verfasst wurde sie von Klaus-Henning Groth, der nationale und internationale NGOs und die Politik berät, und dem Diplom-Geograph Carsten Rocholl. „Die Biodiversitätskrise bedeutet nicht nur, dass zwei oder drei Schmetterlingsarten verschwinden, sondern es handelt sich um DIE zweite Krise neben der Klimakrise – eigentlich Klimakatastrophe – und wir müssen diese gleichwertig behandeln“, betonte Häusling bei der Vorstellung. Der Studie. Oder wie es Rocholl formulierte: „Wenn jede bedrohte Art den Sound eines Rauchmelders auslösen würde, dann wäre es sehr laut auf diesem Planeten.“

Die Studie „Weg ist weg! Warum es keine Alternative zum Erhalt der Artenvielfalt gibt“ behandelt das Auslöschen von Arten samt ihres genetischen Potentials und ihrer Lebensräume, die Ursachen dafür und Instrumente und Maßnahmen zum Aufhalten des Artensterben. Es handelt sich, wie es auch Groth und Häusling bei der Veranstaltung in Berlin bemerkten, um keine erschöpfende Darstellung der Problemlage, sondern die Publikation reißt lediglich die wesentlichen Aspekte an, dient als Faktensammlung und beleuchtet, wo wir stehen, was kann getan werden und was bereits geschieht. Die Autoren liefern zunächst einen Überblick, worum es beim Thema Biodiversität geht und stellen bei einem kurzen Blick auf internationale Ansätze fest, dass das UN-Nachhaltigkeitsziel SDG 15, das unter anderem Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, und den Verlust der biologischen Vielfalt stoppen will, bislang nicht erreicht wurde.

In Kapitel 3 kommt Dr. Josef Tumbrinck, Sonderbeauftragter für das Nationale Artenhilfsprogramm im Bundesumweltministerium zu Wort, der konstatiert, dass trotz positiver Entwicklungen die Gefährdung der Artenvielfalt weiterhin zweifellos dramatisch ist. Deutschland befinde sich leider in einer „großen Gemeinschaft von Staaten, welche die gesteckten Schutzziele bisher nicht erreicht haben“. Handlungsdefizite seien deshalb vorhanden, weil sich andere, zumeist wirtschaftliche, Interessen durchsetzen. Als Beispiel nennt er die Landwirtschaft, bei der sich auch in der aktuellen Förderperiode der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) gezeigt habe, wer am Ende einen größeren Einfluss in der EU hatte. „Da war es die Agrarlobby, die sehr viel von dem durchgesetzt hat, was sie wollte. Jetzt liegt es in der Hand der einzelnen Mitgliedstaaten, die dennoch vorhandenen großen Spielräume auch für die möglichen Artenschutzprojekte zu nutzen“, so Tumbrinck. „Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern wir haben ein Handlungsdefizit“, betonte er auf dem Podium in der Heinrich-Böll-Stiftung. Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität seine immer eine Frage der Priorisierung in der Politik. Die Instrumente, das Ordnungsrecht könne verändert werden, wenn man will, aber die Politik müsse Mittel bereitstellen und Entscheidungen treffen. Tumbrinck verweist darauf, dass das mit 4 Milliarden ausgestattete Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz (ANK), bei dem es darum geht, durch den Schutz oder die Wiederherstellung der Biodiversität die Klimaschutzziele zu erreichen, den willkommenen Nebeneffekt habe, dass man mit jedem Euro auch den Artenschutz fördert. „Das ist schon einmal eine ordentliche Summe, das muss man auch erst einmal in Projekten umsetzen“, sagte er und unterstrich dabei aber, dass das Programm in den Folgejahren ab 2027 mit weiteren Mitteln hinterlegt werden müsse. Im Artenschutzprogramm werde Deutschland jedes Jahr mit 14 Millionen eine „homöopathische“ Summe zur Verfügung haben. Es werden gute Projekte kommen und existierten auch schon viele, die zeigen werden, dass Artenschutz funktioniert. „Es reicht, um Dinge anzuschieben, aber es reicht nicht, um Deutschland in eine Artenschutzwende zu bekommen“, so Tumbrinck.

Das Dossier befasst sich auch mit den Ursachen des Artenschwunds: Es ist vor allem die Art, wie wir unser Land bewirtschaften, die maßgeblich zu diesen drastischen Folgen führt. Damit kommt die Landwirtschaft ins Spiel, denn sie ist einer der Haupttreiber für diese Entwicklung. „Das Übermaß von Stickstoff und Pestiziden als enorme Belastung der Ökosysteme, ein Kahlschlag der Landschaft auch an Strukturen, der Umgang mit unseren Böden und eine weitere Intensivierung fordern ihren tödlichen Tribut“, schreiben die Autoren. Die Intensivierung der Landwirtschaft und Landnutzung gefährde die Artenvielfalt durch die großflächige Umwandlung von artenreichen und kohlenstoffreichen Wäldern, Feuchtgebieten, Mooren und Grasländern in zumeist artenarme Agrarlandschaften mit großen Verlusten von Biodiversität und einem Anteil von etwa einem Drittel der bisher von der Menschheit freigesetzten Treibhausgase. Die Eutrophierung von Land- und Süßwassersystemen und Meeren mit Sauerstoffverarmung infolge von Stickstoff- und Phosphateinträgen aus überdüngten Agrarflächen ist ein weiterer Faktor. Darüber hinaus flächendeckenden Einsatz von Chemikalien und Pflanzenschutzmitteln; vielfach nicht nachhaltige Bewässerungstechniken mit Schädigung der Süßwassersysteme und Versalzung und Versteppung von Böden ist ein weiterer Faktor ebenso wie der menschgemachte Klimawandel. Der Raubbau an den natürlichen Ressourcen trägt zum Artensterben bei. Der Earth Overshoot Day führt uns vor Augen, dass die Natur gar nicht so schnell nachliefern kann, wie wir Ressourcen nutzen“, erklärt Rocholl.

Die Autoren befassen sich auch mit mehreren Instrumenten des Artenschutzes und politischen Rahmenwerken und Richtlinien, die zum Artenschutz beitragen, von Schutzgebieten, Pestizidreduktionsstrategie, Nitratrichtlinie, EU-Wasserrahmenrichtlinie über konkrete Projekte zum Schutz des Rebhuhns bis hin zur Wiedervernässung von Mooren. Sie blicken auf die internationale Ebene mit einer Bewertung der Ergebnisse der Weltnaturkonferenz (COP15) im Dezember 2022 und stellen die wichtigsten Studien vor, die sich mit dem Thema Biodiversität befassen. Ihr Fazit lautet: „Die bisherigen Absichten, Strategien und Maßnahmen haben den weiteren Verlust von Arten und Lebensräumen weder in Deutschland noch in der EU spürbar aufhalten können. Je genauer Wissenschaft und ehrenamtliche Artenkenner hinschauen, umso erschreckender werden manche Populationsprognosen.“ Die dürftige Bilanz der staatlichen Bemühungen komme in weiten Teilen einem Scheitern mit Ansage gleich, resümieren sie. Es drohten Folgen katastrophalen Ausmaßes für die Ökosysteme weltweit. Und damit selbstredend für uns Menschen als Teil der Systeme.

Nach der Vorstellung der Studie stellten sich die Autoren, Häusling, Tumbrinck sowie Dr. Kirsten Thonicke, stellvertretende Abteilungsleiterin & Leiterin der Arbeitsgruppe Ökosystem im Wandel am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und Florian Titze, Senior Policy Advisor Internationale Biodiversitätspolitik bei WWF Deutschland, den Fragen der Moderatorin Lena Luig von der Heinrich-Böll-Stiftung und des Publikums. Der rote Faden, der sich durch sämtliche Redebeiträge zog, war die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln. „Alle 10 Jahre eine neue Strategie zu entwickeln und dann wieder ins Schaufenster zu stellen, wird nicht reichen“, betonte Rocholl. „Wir müssen in die Umsetzung kommen, wir müssen die Forschung ernst nehmen, die Wissenschaft nicht nur auf großen Konferenzen ins Rampenlicht rücken, sondern wir müssen tagtäglich handeln.“ Häusling betonte, dass der Agrarpolitik ein Bereich, der schon seit Jahren auf echte Reformen wartet, aber es wird nicht hart eingegriffen in die GAP, denn das erste Ziel sei es, erst einmal billige Ware zu produzieren – und das seit dem Ukrainekrieg noch mehr. „Im Agrarbereich existieren in Europa die größten Verharrungskräfte – bloß nicht die Bauern belasten, bloß keine Auflagen“, laute die Devise. Ob GAP, Farm to Fork oder Pestizidreduktionsziele: „Ziele haben wir genug, aber es mangelt an der Umsetzung“, so auch Häusling. Im letzten Kapitel betonen die Autoren erneut: „Das Wissen ist da, jetzt gilt es, Verantwortung zu übernehmen.“ Sie stellen 10 konkrete Forderungen an die Politik auf, für deren Lektüre sie auf die Publikation verweisen, die online zum Download bereit steht. (ab)

16.10.2023 |

Welternährungstag: Hungerbekämpfung im Fokus unterschiedlicher Interessen

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Die Vorräte von Millionen Menschen sehen dürftiger aus (Foto: CC0)

Am 16. Oktober ist Welternährungstag – und wie jedes Jahr rücken Hunger und Mangelernährung um diesen Tag herum wieder für eine Weile in den Fokus der Presse, von Veranstaltungen und Berichten oder sind Gegenstand politischer Willensbekundungen. Nichtregierungsorganisationen beklagen lautstark die mangelnden Fortschritte im Kampf gegen den Hunger und fordern zu entschlossenem Handeln auf. Und wie jedes Jahr werden die Artikel und Posts mit Bildern von traurig dreinblickenden Kindern mit dünnen Ärmchen dann auch recht schnell wieder abgelöst von anderen Schreckensmeldungen. Alljährlich bleibt festzustellen, dass die Weltgemeinschaft von ihrem Ziel, bis 2030 Hunger und alle Formen von Unterernährung zu beenden, meilenweit entfernt ist. Immer noch leidet eine Dreiviertelmilliarde Menschen weltweit an chronischer Unterernährung und nimmt dauerhaft zu wenige Kalorien zu sich. Die FAO gibt für 2022 eine Spanne von 691 bis 783 Millionen Hungernde an – meist wird mit 735 Millionen die goldene Mitte zitiert. Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 ist die Zahl um weitere 122 Millionen Menschen in die Höhe geschnellt. 2,4 Milliarden Menschen – rund 30 Prozent der Weltbevölkerung – sind von mittlerer bis schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen. Der Welthunger-Index 2023 vermeldet, dass die Hungersituation in 43 Ländern nach wie vor ernst oder sehr ernst ist. In der Zentralafrikanischen Republik waren etwa im Zeitraum 2020-2022 fast die Hälfte der Bevölkerung (48,7%) unterernährt.

Seit 1981 ruft die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) jedes Jahr ein Motto aus, um den Tag zu begehen und die Aufmerksamkeit auf zentrale Aspekte für die Welternährung zu lenken. Wie schon 1994 und 2002 steht das Thema Wasser dieses Jahr im Mittelpunkt: „Wasser ist Leben. Wasser ist Nahrung. Niemanden zurücklassen“, lautet das Motto. Rund 2,4 Milliarden Menschen leben in Ländern, die unter starkem Wasserstress leiden. Süßwasser macht lediglich 2,5% der globalen Wasserreserven aus und die Landwirtschaft ist für 72% der globalen Süßwasserentnahme verantwortlich, schreibt die FAO auf ihrer Themenseite. Am 16. Oktober startet sie in die Woche mit einer großangelegten Zeremonie, bei der FAO-Generaldirektor QU Dongyu, der irische und italienische Staatspräsident und andere Gäste präsent sein werden. Am 19. Oktober geht es dann weiter mit dem „Junior World Food Day“, der Schüler*innen „eine unterhaltsame Veranstaltung mit Geschichten, Musik, Kunst und Tanz“ bieten soll, auf der sie mit Promis und Aktivist*innen übers Wassersparen und andere nachhaltige Praktiken debattieren können. Ein Promo-Video mit fröhlich tanzenden Kindern, die in mehreren Sprachen vom Wassersparen singen, soll die Jugend dazu inspirieren, sich für Veränderungen einzusetzen.

Mit dem Welternährungstag gibt die FAO auch den Startschuss zum einwöchigen World Food Forum (WFF) in Rom. Das Forum wurde 2021 als „unabhängiges, von der Jugend angeführtes globales Netzwerk von Partnern“ aus der Taufe gehoben, das eine globale Bewegung mit dem Ziel der Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme und Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele anstoßen soll. Neben Online-Veranstaltungen und anderen Plattformen ist die Großveranstaltung im Oktober das Aushängeschild des WFF. QU Dongyu hat mit der 3. Ausgabe des neuen Formats die Sitzung des Welternährungskomitees CFS von ihrem seit Jahren etablierten Termin in der Woche um den Welternährungstag herum auf die darauffolgende Woche verbannt. Das CFS ist die zentrale internationale und zwischenstaatliche Plattform der UN für Ernährungssicherheit und Ernährung, an der alle Mitgliedsstaaten, aber auch die Zivilgesellschaft, der Privatsektor und das Hochrangigen Expertengremium (HLPE) als wissenschaftlicher Arm des CFS mitwirken. NGOs kritisiert seit Langem, dass das Welternährungskomitee als inklusivstes multilaterales Gremium zunehmend entmachtet werde und die FAO stattdessen verstärkt auf Multistakeholder-Koalitionen baue, bei denen private Konzerne und Stiftungen immer mehr Einfluss gewinnen.

Die Menschenrechtsorganisation FIAN International und die US-NGO „Corporate Accountability“ veröffentlichten im Vorfeld des „World Food Forum“ einen Bericht, in dem sie den Einfluss von Konzernen auf die Agenda des WFF kritisieren. Sie nahmen die 44 Kooperationspartner, die auf der WFF-Webseite stehen, genauer unter die Lupe und kamen zu dem Ergebnis, dass 40% davon mindestens eine Verbindung zur Lebensmittel- oder Agrarindustrie, Pharmazie- oder Technologie-Unternehmen pflegten und dass 16 Kooperationspartner mehrere oder sich überschneidende Beziehungen mit Organisationen hatten, die von Konzernen finanziert werden. Das diesjährige WFF werde eindeutig von unternehmensgesteuerten Narrativen, der Vereinnahmung von jugendlichen Teilnehmern und dem Bestreben der FAO, problematische öffentliche und private Investitionspartnerschaften zu vermitteln, dominiert, klagen die Organisationen. „Die Führung der FAO fördert konsequent die Konsolidierung und Ausweitung von konzerngesteuerten, industriellen Lebensmittelsystemen“, beklagt Sofia Monsalve, Generalsekretärin von FIAN International. „Das WFF ist ein wesentlicher Teil einer breiteren FAO-Strategie. Eine noch nie dagewesene umfassende Politik der offenen Tür für Unternehmen ist in den letzten Jahren zu einer institutionellen Priorität der FAO geworden“, sagt sie. Viele der WFF-Unterstützer scheinen den Fokus auf technologische Innovation und globale Wertschöpfungsketten zu legen und eher Privatinvestoren als sozialen Akteuren verbunden zu sein. „Unternehmen investieren strategisch in die Gestaltung industriefreundlicher Narrative und versuchen, eng gefasste, von fossilen Brennstoffen abhängige und technologiegetriebene Lösungen zur Umgestaltung der Ernährungssysteme zu legitimieren“, heißt es in der Studie. „Diese Bemühungen scheinen den Wissensschatz, der sich aus traditionellen Ernährungssystemen, agrarökologischen Anbaumethoden und den Praxiserfahrungen von Millionen Kleinbauern, Viehzüchtern, Fischern und all jenen, für die Land und Lebensmittel keine Handelsware, sondern eine Lebensgrundlage darstellen, zu umgehen oder nur am Rande zu berücksichtigen.“

Auch zahlreiche deutsche NGOs und Hilfswerke kritisieren den Einfluss von Konzernen bei Fragen der Hungerbekämpfung schon lange. Anlässlich des Welternährungstages verweisen sie vor allem auf die strukturellen Ursachen von Hunger und Mangelernährung. „Das Recht auf Nahrung, das für jeden Menschen gleichermaßen gilt, meint mehr als kalorisch satt zu werden. Damit Menschen ihrer Würde entsprechend leben können, ist eine ausgewogene Ernährung nötig“, erklärt Lutz Depenbusch, Experte für Landwirtschaft und Welternährung von Misereor. Dabei macht er auf Armut als eine der zentralen Ursachen für Hunger und Mangelernährung aufmerksam. Mit Blick auf die Halbzeit der UN-Nachhaltigkeitsziele in diesem Jahr sei problematisch, dass die dort definierte Armutsgrenze von 2,15 US-Dollar pro Tag, die ein Mensch als Minimum zum Leben zur Verfügung haben muss, nicht reiche, gesunde Ernährung zu sichern und sie sei damit unzureichend. „Es ist nicht akzeptabel, dass aktuell 3 Milliarden Menschen auf der Welt aus Armutsgründen von gesunder Ernährung abgeschnitten sind. Wer Hunger und Mangelernährung beenden will, muss verstärkt Armut bekämpfen und Ungleichheit abbauen. Vielfach fehlt hierfür der politische Wille“, bemängelt Depenbusch.

Auch FIAN Deutschland prangert an, dass sich die strukturellen Ursachen von Hunger und Mangelernährung, wie Landkonzentration, die Industrialisierung der Agrar- und Ernährungssysteme sowie der wachsende Einfluss von Finanzinvestoren, verschärften und es die Politik versäume, diese Probleme anzugehen. „Dies geht einher mit der systematischen Ausgrenzung und Diskriminierung von kleinen und handwerklichen Nahrungsmittelproduzent*innen im globalen Süden“, sagt Philipp Mimkes, Geschäftsführer von FIAN Deutschland. Zudem werde ländlichen Gemeinden durch Landgrabbing seit Längerem regelrecht der Boden unter den Füßen weggezogen. „100 bis 214 Millionen Hektar Land wurden nach aktuellen Schätzungen seitdem an Investoren transferiert. Die damit einhergehende gewaltige – und oft gewaltsame – Expansion einer agrarindustriellen Landwirtschaft produziert entgegen der landläufigen Meinung nur wenig Nahrungsmittel“, so FIAN. Seit 2000 nahm die Anbaufläche von Palmöl, Zuckerrohr, Soja und Mais um 150 Millionen Hektar zu. Nur 13% der weltweiten Maisernte werden aber für die menschliche Ernährung verwendet. Die Anbaufläche von Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln, Hirse, Roggen und Sorghum sei zugleich um 24 Millionen Hektar gesunken. „Die globale Landwirtschaft ist immer weniger darauf ausgerichtet, die Menschen zu ernähren“, erklärt Roman Herre, Agrarreferent von FIAN. „Diese grundlegende Fehlentwicklung ist weitgehend abwesend in den Debatten zum Thema Welternährung“. (ab)

12.10.2023 |

WHI: Krisen bremsen Kampf gegen den Hunger weiter aus

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Ernährungssysteme werden jungen Menschen oft nicht gerecht (Foto: CC0)

Das Ausmaß des Hungers in der Welt ist nach wie vor enorm und Fortschritte bei der Hungerbekämpfung sind weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Auswirkungen einer Vielzahl an Krisen wie der Anstieg der Nahrungsmittelpreise, angetrieben durch den Krieg gegen die Ukraine, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie, der Klimawandel und immer mehr bewaffnete Konflikte verstärken sich gegenseitig und bewirken, dass etwa 735 Millionen Menschen täglich ihr Recht auf angemessene Nahrung verwehrt wird. Junge Menschen und vor allem junge Frauen sind dabei besonders stark betroffen. Das sind einige der Kernaussagen des Welthunger-Index (WHI) 2023, der am 12. Oktober von der Welthungerhilfe und der irischen Hilfsorganisation Concern Worldwide veröffentlicht wurde. Die multiplen Krisen haben vor allem dazu geführt, dass sich die Ungleichheiten zwischen Regionen, Ländern und Gruppen verschärfen, warnt der Bericht. Während einige Länder sie relativ gut überstanden hätten, seien die Hunger- und Ernährungsprobleme in anderen Ländern schlimmer geworden. „Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen und benachteiligte Gruppen sind besonders betroffen, weil sie kaum noch Kapazitäten zur Bewältigung der verschiedenen Krisen haben“, betont Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe. Vor diesem Hintergrund seien die geplanten Kürzungen von Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit und vor allem die humanitäre Hilfe das falsche Signal.

Der WHI wird jedes Jahr von den beiden Organisationen herausgegeben. Die diesjährige Ausgabe wertete Daten zur Ernährungslage von 136 Ländern aus und fasst im Index vier Indikatoren zusammen: Den Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung (hier dient die Deckung des Kalorienbedarfs als Messlatte), den Anteil von Kindern unter fünf Jahren, deren Wachstum verzögert ist (zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter – ein Anzeichen für chronische Unterernährung), den Anteil der unter Fünfjährigen, die an Auszehrung leiden (zu niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße – ein Beleg für akute Unterernährung) sowie die Sterblichkeitsrate von Kindern in dieser Altersgruppe. Darauf basierend wird der WHI-Wert auf einer 100-Punkte-Skala ermittelt, wobei 100 der schlechteste Wert ist. Die Lage in jedem Land wird als niedrig, mäßig, ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft. Für 125 Länder waren ausreichend Daten vorhanden, um WHI-Werte für 2023 zu berechnen, für 11 Länder konnte aufgrund unvollständiger Datenlage kein Wert berechnet werden und wenn möglich wurden jene Länder vorläufig in die unterschiedlichen Kategorien eingestuft.

Demnach ist in 43 Ländern die Hungersituation nach wie vor ernst oder sehr ernst. Sehr ernst ist sie in neun Ländern: Burundi, Somalia und Südsudan (mit unvollständiger Datenlage) sowie in der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo, Lesotho, Madagaskar, Niger und Jemen. Die Zentralafrikanische Republik hat mit 42,3 den höchsten berechenbaren WHI-Wert aller Länder im Ranking. Dort waren 48,7% aller Menschen im Zeitraum 2020–2022 unterernährt – fast die Hälfte der Bevölkerung kann also dauerhaft ihren Mindestbedarf an Kalorien nicht decken. Eines von zehn Kindern erlebt seinen 5. Geburtstag nicht und 40% sind wachstumsverzögert. Das Land hat in den letzten Jahren enorm unter Konflikten gelitten, die Bevölkerung wurde vertrieben, litt an weitverbreiteter Armut und Unterbeschäftigung, wodurch der Hunger verstärkt wurde. Der Bericht gibt für weitere 37 Länder den Schweregrad des Hungers mit mäßig an. Besorgniserregend ist, dass sich vielerorts die Lage verschlimmert hat: In 18 Ländern mit mäßigen, ernsten oder sehr ernsten WHI-Werten für 2023 nahm der Hunger im Vergleich zum Referenzjahr 2015 zu. „Der Welthunger-Index (WHI) offenbart, dass wir nach jahrzehntelangen Fortschritten in der Reduzierung des weltweiten Hungers seit 2015 kaum noch vorangekommen sind. Da sich die Auswirkungen der Krisen vervielfachen und verschärfen, leiden immer mehr Menschen unter extremem Hunger. Prognosen zufolge wird sich die Situation im Laufe des Jahres sogar weiter verschlechtern“, heißt es im Vorwort.

In 14 Ländern mit mäßigen, ernsten oder sehr ernsten WHI-Werten für 2023 sind die Fortschritte weitgehend zum Stillstand gekommen – ihre WHI-Werte für 2023 sanken nur um unter 5% gegenüber 2015. Der globale WHI-Wert für 2023 liegt bei 18,3, was als mäßig gilt, jedoch nicht einmal einen Punkt unter dem Wert von 19,1 für 2015 liegt. Beim aktuellen Tempo werden 58 Länder bis 2030 kein niedriges Hungerniveaus erreichen können. „Während das Jahr 2030 näher rückt und nur noch sieben Jahre verbleiben, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, wird fast einer Dreiviertelmilliarde Menschen ihr Recht auf angemessene Nahrung verwehrt“, schreiben Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe und David Regan, der Vorstandsvorsitzende von Concern Worldwide, im Vorwort zum Bericht. „Hunger ist nicht neu, genauso wenig wie seine Ursachen. Neu ist, dass wir jetzt in einer Zeit leben, die als „Polykrise“ bezeichnet wird: Die sich verstärkenden Auswirkungen des Klimawandels, Konflikte, wirtschaftliche Schocks, die Pandemie und der Russland-Ukraine-Krieg haben nicht nur die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten verschärft, sondern auch die erzielten Fortschritte bei der Reduzierung des Hungers in vielen Ländern verlangsamt oder gar umgekehrt“, führen sie aus. Es gibt jedoch auch positive Beispiele in den grauen Zahlen: Sieben Länder, deren WHI-Werte für 2000 einen gravierenden Hungerzustand verzeichnete – Angola, Äthiopien, Niger, Sambia, Sierra Leone, Somalia und Tschad –, machten Fortschritte. Zudem haben sieben Staaten ihre WHI-Werte zwischen 2015 und 2023 um fünf oder mehr Punkte gesenkt: Bangladesch, Dschibuti, Laos, Mosambik, Nepal, Timor-Leste und Tschad.

Der diesjährige Welthunger-Index befasst sich mit der wichtigen Rolle, die die Jugend weltweit bei der Verbesserung der Ernährungssysteme spielen könnte und zeigt, dass diese aktuell vor allem jungen Menschen nicht gerecht werden. In einem Gastbeitrag schreiben Wendy Geza und Mendy Ndlovu, zwei Wissenschaftlerinnen aus Südafrika, aus der Perspektive der jungen Generation: „Wir, als junge Menschen in unseren 20ern, sind uns der Tatsache bewusst, dass wir nicht nur unter dem Versagen der derzeitigen Ernährungssysteme leiden, sondern diese samt der sich abzeichnenden Herausforderungen erben werden. Das bedroht unser Recht auf Nahrung sowie andere Menschenrechte wie Gesundheit, Bildung und ein würdiges Leben.“ Auf der Welt leben derzeit ca. 1,2 Milliarden junge Menschen, ein historischer Höchstwert. Die Mehrheit von ihnen lebt in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in Südasien, Ostasien und Afrika. Dort betrachtet die Jugend oft die Landwirtschaft als unattraktiv und unrentabel. Mangelnde Unterstützung, Innovation und Ausbildung sowie die Überzeugung, dass die Landwirtschaft keine Möglichkeiten für Wohlstand oder Selbstverwirklichung bietet, führen zu geringem Interesse an ihr. Für eine stärkere Beteiligung junger Menschen an Ernährungssystemen ist Geza und Ndlovu zufolge daher ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, der auf eine allumfassende Verbesserung der ländlichen Wirtschaft, des sozialen Wohlergehens und von Dienstleistungen im ländlichen Raum ausgerichtet ist. „Es müssen unterstützende Umfelder für Jugendliche geschaffen werden, damit sie Karrieren und Interessen in Ernährungssystemen verfolgen können.“ Ein weiteres Problem sei die mangelnde Beteiligung von Jugendlichen an Entscheidungsprozessen, die ihre Zukunft betreffen. Der Anteil junger Leute in formellen Entscheidungsgremien sei verschwindend gering und das Einbringen ihrer Perspektiven habe in der politischen Umsetzung kaum Wirkung gezeigt. „Als Erbende der gegenwärtigen Ernährungssysteme verdienen wir ein stärkeres Mitspracherecht bei deren Umgestaltung, damit sie unseren aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen gerecht werden“, fordern die beiden Autorinnen. (ab)

15.09.2023 |

Sechs Belastungsgrenzen des Planeten bereits überschritten

OpSpace23
Bild: Richardson et al., Science Advances, 2023 (bit.ly/PIKBild, CC BY-NC 4.0, bit.ly/CCBY-NC40)

Um den Zustand der Erde ist es nicht gerade rosig bestellt: Von neun planetaren Belastungsgrenzen wurden bereits sechs überschritten und unser Planet befindet sich damit deutlich jenseits des sicheren Handlungsraums für die Menschheit. Ob beim Klimawandel, der Intaktheit der Biosphäre, Entwaldung, der Einbringung neuartiger Stoffe, Wassernutzung oder beim Stickstoff- und Phosphorkreislauf: Der Mensch hat gravierend eingegriffen in das System Erde und es gehörig aus dem Gleichgewicht gebracht. Das zeigt eine Studie, die am 13. September im Fachblatt „Science Advances“ erschienen ist. Die beteiligten 29 Autor*innen warnen, dass der Druck im Kessel weiter steigt. „Wir können uns die Erde als einen menschlichen Körper vorstellen und die planetaren Grenzen als eine Form des Blutdrucks“, erklärt die Hauptautorin der Studie, Katherine Richardson von der Universität Kopenhagen. „Ein Blutdruck von über 120/80 bedeutet zwar nicht, dass ein sofortiger Herzinfarkt droht, aber er erhöht das Risiko.“ Und die aktuellen Fieber- und Blutdruckmessungen der Wissenschaftler*innen zeigen ein düsteres Gesamtbild. „Wissenschaft und Gesellschaft sind äußerst besorgt über die zunehmenden Anzeichen, dass die Widerstandsfähigkeit des Planeten schwindet, wie sich in der Überschreitung der planetaren Grenzen zeigt. Dies bringt mögliche Kipppunkte näher und verringert die Chance, die wir noch haben, die planetare Klimagrenze von 1,5°C einzuhalten“, sagte Johan Rockström, Mitautor der Studie und Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).

Die Studie ist bereits die zweite Aktualisierung der Planetaren Grenzen seit der im Jahr 2009 in der Zeitschrift Nature veröffentlichten ersten Bestandsaufnahme und einem Update 2015. Damals waren der Bereich der neuen gefährlichen Substanzen, der atmosphärische Aerosolgehalt und bei der Intaktheit der Biosphäre die funktionale Vielfalt unbestimmt geblieben. Bei der neuen Veröffentlichung wurden nun erstmals alle neun Prozesse und Systeme, welche zusammen die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Planeten bestimmen, vollständig überprüft. „Dieses Generalupdate der Planetaren Grenzen zeigt deutlich: die Erde ist ein Patient, dem es nicht gut geht. Der Druck auf den Planeten nimmt weiter zu, dabei werden lebenswichtige Belastungsgrenzen überschritten“, sagt Rockström. Wir wissen nicht, wie lange wir entscheidende Grenzen derart überschreiten können, bevor die Auswirkungen zu unumkehrbaren Veränderungen und Schäden führen.” In einer Grafik ist mittig ein runder grüner Bereich zu sehen – der sichere Handlungsbereich der Menschheit. Die neun planetaren Grenzen sind als Tortenstücke dargestellt. Im grünen Kreis befinden wir uns noch bei der Belastung der Atmosphäre durch Aerosole – Kleinstpartikel wie etwa Ruß in der Luft, die bei Verbrennungsprozessen entstehen. Die Datenlage ist hier aber dünn. Der Studie zufolge kann es jedoch regional zu Überschreitungen kommen, z.B. in Südasien, da sich der Aerosolgehalt auf Niederschlagsmuster auswirkt und es so in Monsunregionen wohl weniger Niederschläge geben wird. Ebenfalls noch grün eingefärbt ist der Bereich Versauerung der Ozeane, doch auch hier könnte die kritische Grenze bald überschritten sein. Beim Ozonabbau in der Stratosphäre gibt es grünes Licht: Hier ist die Belastung zurückgegangen und es gibt lediglich noch regionale Überschreitungen. „Obwohl das in der Antarktis immer noch der Fall ist, zeichnet sich bereits eine Verbesserung ab – dank globaler Initiativen, die durch das Montrealer Protokoll erreicht wurden“, betont Richardson.

In der Grafik ragen die Tortenstücke in den neun Bereichen unterschiedlich lang über den grünen Kreis in der Mitte hinaus. Die Länge der „Wedges“ zeigt an, wie der aktuelle Zustand des jeweiligen Prozesses in Bezug auf den Abstand zur planetaren Grenze (Ende des grünen Bereiches) und zum holozänartigen Basiswert (Ursprung des Diagramms) ist. Die Stücke werden mit zunehmendem Risiko gelb bis rot eingefärbt. Ein hohes Risiko ist lilafarben gekennzeichnet. Manche Tortenstücke werden erst später lila als andere, weil die Überschreitung möglicherweise mit einem geringeren Risiko für den Planeten einhergeht als in anderen Bereichen. Im Bereich „Integrität der Biosphäre“ ist die größte Grenzüberschreitung bei der Artenvielfalt zu beobachten. „Von schätzungsweise 8 Millionen Tier- und Pflanzenarten sind etwa 1 Million vom Aussterben bedroht, und mehr als 10% der genetischen Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt könnten in den letzten 150 Jahren verloren gegangen sein. Damit ist die genetische Komponente der Integritätsgrenze der Biosphäre deutlich überschritten“, schreiben die Autor*innen. Für die zweite Komponente, die Funktionsfähigkeit (Integrität) der Biosphäre im Erdsystem, die bisher noch unbestimmt war, wurde eine neue Kontrollvariable für die Grenze eingeführt. Die Analyse ergab auch hier eine Überschreitung, welche schon seit dem späten 19. Jahrhundert besteht, als die Land- und Forstwirtschaft weltweit stark ausgedehnt wurde. „Neben dem Klimawandel ist die Funktionsfähigkeit der Biosphäre die zweite Säule der Stabilität unseres Planeten“, erklärt Wolfgang Lucht, Leiter der Abteilung Erdsystemanalyse am PIK. „Und wie beim Klima destabilisieren wir derzeit auch diese Säule, indem wir zu viel Biomasse entnehmen, zu viele Lebensräume zerstören, zu viele Flächen entwalden usw. Unsere Forschung zeigt, dass in Zukunft beides Hand in Hand gehen muss: die globale Erwärmung begrenzen und eine funktionierende Biosphäre erhalten“, so Lucht.

Die erstmalige Bewertung zur Einbringung neuartiger Stoffe (novel entities) zeigt, dass auch hier die Grenze überschritten ist. Zu den Novel Entities gehören synthetische Chemikalien und Stoffe (z.B. Mikroplastik, endokrine Disruptoren und organische Schadstoffe), vom Menschen mobilisiertes radioaktives Material, inklusive nuklearer Abfälle und Kernwaffen, sowie die Veränderung der Evolution durch den Menschen, genetisch veränderte Organismen und andere direkte Eingriffe des Menschen in evolutionäre Prozesse. Die Wissenschaftler*innen betonen, dass die Auswirkungen dieser Stoffe auf das Erdsystem als Ganzes noch weitgehend unerforscht sind. Der Rahmen der planetaren Grenzen befasse sich nur mit der Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Erdsystems und nicht mit den Gefahren für den Menschen. Daher bleibe es „eine wissenschaftliche Herausforderung, zu beurteilen, wie viel Belastung durch neuartige Entitäten das Erdsystem verträgt, bevor es unumkehrbar in einen potenziell weniger bewohnbaren Zustand übergeht.“ Hunderttausende von synthetischen Chemikalien werden heute hergestellt und in die Umwelt freigesetzt. Bei vielen Stoffen sind die potenziell weitreichenden und dauerhaften Folgen ihrer Freisetzung auf die Prozesse des Erdsystems, gerade auf die funktionelle Integrität der Biosphäre, kaum bekannt, und ihre Verwendung ist schlecht geregelt. Die Wissenschaftler*innen geben jedoch zu bedenken, dass die Menschheit in der Vergangenheit wiederholt von unbeabsichtigten Folgen einer Freisetzung überrascht worden sei, z.B. von Insektiziden wie DDT oder der Wirkung von FCKW auf die Ozonschicht. Für diese Arten von neuartigen Substanzen sei also der einzige wirklich sichere Betriebsraum, der die Aufrechterhaltung holozänähnlicher Bedingungen gewährleisten kann, ein Raum, in dem diese Stoffe nicht vorhanden sind – es sei denn, ihre potenziellen Auswirkungen auf das Erdsystem wurden gründlich untersucht.

Ebenfalls schon im lilafarbenen Bereich angekommen sind wir bei biogeochemischen Kreisläufen, wie Stickstoff und Phosphor, die durch Landwirtschaft und Industrie stark beeinflusst wurden. Im Bereich Landsysteme stehen die Signale bereits auf Rot: Waldflächen in borealen, gemäßigten und tropische Zonen wurden abgeholzt und seit dem letzten Update der Studie 2015 hat sich für die meisten Regionen die Entwaldung verstärkt. „Landnutzungsänderungen und Feuer führen zu schnellen Veränderungen in Waldgebieten und die Abholzung im tropischen Regenwald im Amazonasgebiet hat dazu geführt, dass die planetare Grenze nun überschritten ist“, heißt es in der Studie. Beim Süßwasser steht die Ampel vorerst „nur“ auf Orange. Die Grenze bezieht sich in diesem Bereich nun sowohl auf sogenanntes „grünes“ Wasser (das in landwirtschaftlichen und natürlichen Böden und Pflanzen enthalten ist) als auch auf „blaues“ Wasser (Wasser in Flüssen, Seen usw.). Beide dieser Grenzen sind jedoch überschritten. Rockström bezeichnet es als einen „echten Durchbruch“, dass der sichere Handlungsraum für die Menschheit auf der Erde nun wissenschaftlich quantifiziert wurde. „Dies gibt uns einen Leitfaden in die Hand für notwendige Maßnahmen und liefert das erste vollständige Bild der Kapazitäten unseres Planeten, den von uns erzeugten Druck abzufedern.“ Er betont, dass das Bereitstehen dieses Wissens eine ausgezeichnete Grundlage dafür sei, durch systematischere Anstrengungen Schritt für Schritt die Widerstandsfähigkeit des Planeten zu schützen, erholen zu lassen und wieder herzustellen. In diese Richtung geht auch der abschließende Satz der Studie: „Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den planetaren Grenzen schränken die Menschheit nicht ein, sondern regen sie zu Innovationen für eine Zukunft an, in der die Stabilität des Erdsystems grundsätzlich bewahrt und gesichert wird.“ (ab)

02.08.2023 |

Erdüberlastungstag: Ressourcen für 2023 schon am 2.8. verprasst

Muellkippe
Die Kapazitäten der Erde sind endlich (Foto: CC0/Pixabay)

Dieses Jahr fällt der „Earth Overshoot Day“ auf den 2. August – die Menschheit hat an diesem Tag alle nachhaltig nutzbaren Ressourcen für das gesamte Jahr 2023 bereits aufgebraucht: Den Rest des Jahres leben wir wieder auf Kosten künftiger Generationen und übernutzen die natürlichen Ressourcen über das regenerierbare Maß hinaus. Dies ist die traurige Botschaft des „Global Footprint Network (GFN)“, einer internationalen Forschungsorganisation, die das Datum alljährlich basierend auf Daten der National Footprint and Biocapacity Accounts neu berechnet. Diese werden von der York University, Toronto mitgepflegt und stützen sich unter anderem auf UN-Datensätze. Zur Festlegung des Tages werden zwei Größen verglichen: die biologische Kapazität der Erde zum Aufbau von Ressourcen sowie zur Aufnahme von Müll und Treibhausgasemissionen und andererseits der ökologische Fußabdruck – der Bedarf an Acker-, Weide- und Bauflächen, die Entnahme von Holz, Fasern (Baumwolle) oder Fisch, aber auch der CO2-Ausstoß und die Müllproduktion. Im Ergebnis hat die Menschheit seit mehr als 50 Jahren erhebliche Defizite angehäuft, die sich zu einer ökologischen Schuld akkumulieren. Wir leben aktuell so, als hätten wir 1,7 Planeten zur Verfügung. „Der anhaltende Overshoot hat zu Land- und Bodendegradation, zur Erschöpfung der Fischbestände, zu Entwaldung, Artensterben und enormen Treibhausgasen geführt. Die Folgen treten überall auf der Welt immer klarer zutage mit ungewöhnlichen Hitzewellen, Waldbränden, Dürren und Überschwemmungen, wodurch die Konkurrenz um Nahrung und Energie verschärft wird“, schreibt das GFN in einer Pressemitteilung. „Das größte Risiko, abgesehen vom ökologischen Overshoot selbst, liegt in der Selbstgefälligkeit gegenüber dieser Krise“, sagt der Leiter der Organisation, Steven Tebbe. „Wer jetzt handelt, schützt nicht nur die Umwelt, sondern sorgt auch für eine zukunftssichere Wirtschaft und das Wohlergehen der Bevölkerung“, fügte er hinzu.

2022 fiel der Earth Overshoot Day auf den 28. Juli. Die scheinbare Verbesserung um fünf Tage im Vergleich zum Vorjahr täuscht jedoch etwas, da der tatsächliche Unterschied weniger als einen Tag ausmachte, erklärte das Netzwerk. Denn die anderen vier Tage sind dem geschuldet, dass den diesjährigen National Footprint and Biocapacity Accounts verbesserte Datensätze zugrunde liegen. Sie bilden nun das Abschneiden aller Länder bis zum Jahr 2022 ab, während im letzten Jahr die Datengrundlage nur bis 2019 reichte. Die Zahlen aus unterschiedlichen Jahren sind also nicht vergleichbar, sondern der ökologische Fußabdruck und die Biokapazitätskennzahlen aller Länder sind jedes Jahr anders und damit ändern sich auch die Daten vergangener Erdüberlastungstage. Seit 1971 ist das Datum jedes Jahr im Kalender weiter nach vorne gerückt, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Der erste Erdüberlastungsstag war am 25. Dezember 1971. In den frühen 90er Jahren lag er in der zweiten Oktoberhälfte und 2018 fiel er auf den 1. August, das bisher früheste Datum. Im Jahr 2020 rückte das Datum zurück auf den 16. August, was den anfänglichen Rückgang der Ressourcennutzung in der ersten Jahreshälfte aufgrund der pandemiebedingten Lockdowns widerspiegelt. „In den letzten 5 Jahren hat sich der Trend abgeflacht. Inwieweit dies auf die wirtschaftliche Verlangsamung oder auf bewusste Dekarbonisierungsmaßnahmen zurückzuführen ist, lässt sich nur schwer feststellen“, schreibt das Netzwerk. „Dennoch geht die Verringerung des Overshoot viel zu langsam voran. Um das IPCC-Ziel der Vereinten Nationen zu erreichen, den CO2-Ausstoß bis 2030 weltweit um 43 % gegenüber 2010 zu reduzieren, müsste der Overshoot Day in den nächsten sieben Jahren jährlich um 19 Tage verschoben werden.“

Doch das Netzwerk betont, dass es auch Lösungen gebe, um den ökologischen Overshoot umzukehren und die Regeneration des Planeten anzukurbeln. Die „Power of Possibility“-Plattform auf der Webseite des GFN zeigt, wie wir unsere Ressourcensicherheit in fünf Schlüsselbereichen (gesunder Planet, Städte, Energie, Lebensmittel und Bevölkerung) verbessern können und stellt Technologien, Regierungsstrategien, öffentliche Maßnahmen und Vorzeigeprojekte von Bürgerinitiativen und aus der Wissenschaft vor. Die Ernährung ist dabei ein zentraler Bereich, da die Hälfte der Biokapazität der Erde dafür verwendet wird. „Mit der wachsenden Weltbevölkerung und einer steigenden Nachfrage nach gesunden Lebensmitteln wird der ökologische Druck durch die Ernährung zunehmen, während die Lebensmittelproduktion aufgrund zunehmender Ressourcenknappheit und ungewissen Klimabedingungen vor immer größeren Herausforderungen steht“, heißt es in einem Blogbeitrag. „Aber es gibt auch großes Potenzial – ein auf Kreislaufprinzipien basierendes Ernährungssystem hat das Potenzial, den Flächenverbrauch für Lebensmittel um bis zu 71% zu reduzieren und den Treibhausgas-Ausstoß um 29% pro Person zu senken.“ Ein Kernproblem ist mangelnde Effizienz bei der Lebensmittelproduktion. Die Landwirtschaft ist stark abhängig von fossilen Brennstoffen. Zudem ist die Produktion von tierischen Kalorien deutlich ressourcenintensiver als die von pflanzlichen Kalorien, erklärt das Netzwerk. So werden in Belgien zum Beispiel 5 Kalorien fossiler Brennstoffe benötigt, um eine Kalorie Fleisch zu erzeugen. Wenn wir den weltweiten Fleischkonsum um 50% reduzieren und diese Kalorien durch eine vegetarische Ernährung ersetzen würden, könnten wir den Overshoot Day um 17 Tage verschieben (davon 10 Tage durch die Reduzierung der Methanemissionen), so die Berechnungen.

Ein weiteres Problem ist die Lebensmittelverschwendung: Etwa ein Drittel der weltweit für den menschlichen Verzehr produzierten Lebensmittel (1,3 Milliarden Tonnen pro Jahr nach Daten der Welternährungsorganisation) geht verloren oder wird verschwendet, wobei Länder mit hohem und niedrigem Einkommen in etwa die gleichen Mengen an Lebensmitteln verschwenden, wenn auch aus anderen Gründen. Wenn die Lebensmittelverschwendung weltweit um die Hälfte reduzieren würde, ließe sich der Overshoot Day um 13 Tage nach hinten verschieben. Auch Veränderungen in der Landwirtschaft können einen Beitrag leisten. Die Agroforstwirtschaft ist eine Methode, bei der Bäume zusammen mit anderen Nutzpflanzen auf derselben Fläche angebaut werden. Damit können nicht nur die Erträge der Anbauflächen gesteigert und die Bodenqualität erhalten werden, sondern es wird auch Kohlenstoff in den Böden gespeichert. Würde Agroforstwirtschaft in großem Stil betrieben, ließe sich der Overshoot Tag bis 2050 um 2,1 Tage verschieben. Weitere 1,2 Tage könnten durch verbesserten Reisanbaumethoden eingespart werden. Wenn die Reisfelder nicht ständig überflutet sind, reduziert sich der Methanausstoß. In den bereits vorliegenden Lösungen liegt ein enormes Potenzial, wenn sie in großem Stil genutzt werden, betont das Global Footprint Network. So können wir eine bessere Resilienz erzielen und den Erdüberlastungstag verschieben.

Auch deutsche Organisationen machen jedes Jahr auf den Erdüberlastungstag aufmerksam und richten Forderungen an die Politik. Die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch betont, dass es große Unterschiede gebe, was den ökologischen Fußabdruck der einzelnen Länder betrifft. „Den deutschen Erdüberlastungstag hatten wir bereits nach gut vier Monaten erreicht“, sagt Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch. „Wenn alle Menschen weltweit so wirtschaften und leben würden wie wir in Deutschland, bräuchten wir drei Planeten. Das unterstreicht die besondere Verantwortung der Industrienationen und stark emittierenden Schwellenländer.“ Die NGO weist darauf hin, dass die Nachfrage nach Futtermitteln wie Soja für die industrielle Tierhaltung oder Biokraftstoffe für die EU entscheidende Treiber für die Abholzung der Wälder weltweit seien. Das bedrohe erheblich die Artenvielfalt und beschleunige den Klimawandel. So tragen die deutschen Importe jährlich zur Abholzung von 43.000 Hektar Tropenwälder bei, was in etwa der Größe einer Millionenstadt wie Köln entspricht. Zwar habe die EU jüngst endlich mehrere Instrumente und Vorschriften beschlossen, um ihre Lieferketten nachhaltiger zu gestalten. „Das ist ein erster Meilenstein, doch er reicht noch nicht“, sagt Katharina Brandt, Referentin für Agrarpolitik bei Germanwatch. „Wir brauchen auch verpflichtende Sorgfaltspflichten für den EU-Finanzsektor, um die Finanzierung von Entwaldung verursachenden Projekten zu beenden.“ Die EU müsse sich auch mit ihrem übermäßigen Verbrauch von Rohstoffen, die viel Fläche beanspruchen und Entwaldung verursachen, auseinandersetzen. „Deshalb setzen wir uns für eine EU-Handelspolitik ein, die gemeinsam mit den Partnerländern verbindliche Menschenrechts-, Umwelt- und Sozialstandards vereinbart“, erklärt Brandt.

Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) meldete sich zu Wort und forderte die Bundesregierung auf, zügig ein Ressourcenschutzgesetz mit verbindlichen Zielen auf den Weg zu bringen. Der Ressourcenverbrauch müsse bis 2050 um 85% reduziert werden, um die Grenzen des Planeten einzuhalten. Ein solches Gesetz müsse sowohl sämtliche nicht erneuerbaren Ressourcen wie Metalle und Mineralien, aber auch Böden und Flächen, Acker- und Weideland, Fischgründe, Wald und Holz umfassen und somit schützen. Darin müssen vor allem auch die Nutzung von Baumaterialien wie Beton und Gips sowie Rohstoffe für die Energiewende wie zum Beispiel Lithium und andere Metalle reglementiert werden. „Unsere Art zu leben, zu arbeiten, zu produzieren und zu konsumieren, verschlingt die Ressourcen des Planeten schneller, als dieser sich erholen kann. Dem muss diese Bundesregierung endlich entschieden entgegentreten. Wir fordern die Regierung deshalb auf, ein verbindliches Ressourcenschutzgesetz auf den Weg zu bringen“, erklärte Myriam Rapior, stellvertretende Vorsitzende des BUND. Das kirchliche Hilfswerk Misereor machte auf den überhöhten Ressourcenverbrauch der Industriestaaten aufmerksam. „Mit dem überproportional hohen Konsum und Ressourcenverbrauch insbesondere in den G7-Staaten leben wir auch auf Kosten der Menschen des Globalen Südens“, erläutert Madeleine Alisa Wörner, Misereor-Expertin für erneuerbare Energien und Energiepolitik. „Denn ein einzelner Mensch in Deutschland hat einen deutlich größeren Ressourcenverbrauch als ein Mensch in Ghana. So liegt der durchschnittliche CO2-Ausstoß pro Kopf in Ghana bei 0,5 Tonnen, während dieser in Deutschland bei 7,7 Tonnen liegt.“ Eine Chance zum Leben innerhalb der planetaren Grenzen sieht sie im Konzept der Suffizienz, also ressourcenschonendem Verhalten, welches sozial gerecht ist. Doch suffizientes Handeln könne nur mit einem umfassenden Wandel hin zu Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen funktionieren, die nicht unsere Lebensgrundlage zerstören. „Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, bessere Rahmenbedingungen für ein suffizientes Leben zu schaffen. Damit wird Deutschland der konkrete Auftrag zum Sparen, Reduzieren und Achten der planetaren Grenzen gegeben.“ (ab)

13.07.2023 |

Weltweit hungern 783 Millionen Menschen – 122 Millionen mehr als 2019

FrauReis
Oft bleiben die Taschen leer (Foto: CC0/Pixabay)

Im Kampf gegen den Hunger geht es einfach nicht voran: Noch immer leiden auf der Erde bis zu 783 Millionen Menschen an Unterernährung und im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 ist die Zahl um weitere 122 Millionen in die Höhe geschnellt. Das zeigt der Bericht „The State of Food Security and Nutrition in the World 2023”, der am 12. Juli von fünf UN-Organisationen veröffentlicht wurde. Fast jeder zehnte Mensch ist damit von Hunger betroffen und an dieser Kernbotschaft ändert sich seit Jahren nichts – ganz egal, mit welcher Berechnungsmethode der jährlich erscheinende Bericht in der jeweiligen Ausgabe zu welcher exakten Prozentzahl oder leicht anders verlaufenden Kurve gelangt. Ebenso wenig wie an der Prognose, dass es mit dem Ziel, Hunger, Ernährungsunsicherheit und Mangelernährung in all ihren Formen bis zum Jahr 2030 zu beenden, vermutlich nichts wird. Oder wie es die Spitzen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD), von UNICEF, des Welternährungsprogramms (WFP) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im gemeinsamen Vorwort zum Bericht etwas diplomatischer formulieren: „Zweifellos stellt die Verwirklichung des nachhaltigen Entwicklungszieles, den Hunger bis 2030 zu beenden, eine gewaltige Herausforderung dar.“ Die globalen Hungerzahlen blieben zwar 2022 auf hohem Niveau stabil, nachdem sie 2020 inmitten der Pandemie stark und 2021 etwas gebremst angestiegen waren, doch in einigen Regionen, gerade in Afrika, verschärft sich die Lage weiter. „Unsere Agrar- und Ernährungssystem sind nach wie vor sehr anfällig für Schocks und Beeinträchtigungen durch Konflikte, Klimaveränderungen und -extreme sowie wirtschaftlichen Abschwung. Diese Faktoren, in Verbindung mit wachsender Ungleichheit, stellt die Fähigkeit der Ernährungssysteme, nahrhafte, sichere und erschwingliche Nahrung für alle bereitzustellen, auf eine harte Probe“, heißt es im Vorwort weiter. Die Hauptursachen für Ernährungsunsicherheit und Mangelernährung seien unsere „neue Normalität“.

In der Ausgabe 2023 des Berichts wird, wie auch schon in den beiden Jahren zuvor, eine Zahlenspanne angegebenen, um den pandemiebedingten Unsicherheiten bei der Datenerhebung Rechnung zu tragen, die noch bestehe, auch wenn die Meldung der Daten allmählich wieder normal laufe. Es wird geschätzt, dass im Jahr 2022 zwischen 691 und 783 Millionen Menschen von Hunger betroffen waren. Nimmt man die Mitte der Spanne (735 Millionen), so ist die Zahl der unterernährten Menschen gegenüber 613 Millionen in 2019 um 20% gestiegen. Der neusten Datengrundlage zufolge ging der Anteil der unterernährten Menschen zunächst von 12,1% im Jahr 2005 auf 7,7% in 2014 zurück. Dann blieb er auf diesem Niveau, bevor er mit dem Ausbruch von Covid-19 sprunghaft anstieg und im Jahr 2022 dann 9,2% der Weltbevölkerung erreichte – oder 9,8%, wenn man die obere Grenze berücksichtigt. „Dennoch ist der in den letzten zwei Jahren beobachtete Anstieg des Welthungers gebremst und 2022 litten etwa 3,8 Millionen weniger Menschen Hunger als noch 2021. Die wirtschaftliche Erholung von der Pandemie hat dazu beigetragen, aber die bescheidenen Fortschritte wurden ohne Zweifel durch ansteigende Lebensmittel- und Energiepreisen, die durch den Krieg in der Ukraine weiter in die Höhe getrieben werden, unterlaufen“, schreiben die Leiter*innen der UN-Organisationen. Es gebe keinen Grund, sich zurückzulehnen.

Die Zahlen zeigen ein anhaltend regionales Gefälle, wobei in Afrika der Anteil der Hungernden in der Bevölkerung am höchsten ist: Jeder Fünfte (19,7%) ist dort unterernährt – das ist fast das Doppelte des globalen Durchschnitts –, während Asien in absoluten Zahlen führt. Mehr als die Hälfte (54,6%) der 735 Millionen Menschen, die im Jahr 2022 unterernährt waren, lebten in Asien (401,6 Millionen Menschen), gefolgt von Afrika mit 281,6 Millionen bzw. 38,3% der Gesamtzahl sowie Lateinamerika und Karibik mit 43,2 Millionen bzw. 5,9% der Hungernden. Die Zahl der Hungernden in Afrika ist seit 2021 um 11 Millionen und seit dem Ausbruch der Pandemie um mehr als 57 Millionen Menschen gestiegen. Der Anteil der unterernährten Menschen hat ebenfalls zugenommen. Besonders alarmierend ist die Situation in der Subregion Zentralafrika, zu der Länder wie der Tschad und die Demokratische Republik Kongo gehören. Dort war vergangenes Jahr fast ein Drittel der Bevölkerung (29,1%) unterernährt, wenn man die Mitte der Spanne heranzieht. In Ostafrika waren 28,5% der Bevölkerung betroffen. In Asien waren es 8,5% der Bevölkerung, wobei die Zahl in den Unterregionen Südasien (15,6%) und Westasien (10,8%) deutlich höher lag. Lateinamerika und die Karibik als Region verzeichnete Fortschritte, da der Anteil der unterernährten Menschen von 7,0% im Jahr 2021 auf 6,5% in 2022 sank – ein Rückgang um 2,4 Millionen, doch es sind immer noch 7,2 Millionen mehr als 2019. Der Rückgang ist auf Südamerika zurückzuführen, denn in der Karibik stieg der Anteil der Unterernährung von 14,7% in 2021 auf 16,3% im Folgejahr.

Der Bericht enthält nicht nur Schätzungen zur Zahl der chronisch unterernährten Menschen, sondern auch zur moderaten und schweren Ernährungsunsicherheit. Moderate Ernährungsunsicherheit wird definiert als „ein Schweregrad der Ernährungsunsicherheit, bei dem Menschen die Ungewissheit haben, ob sie sich mit Lebensmitteln versorgen können“, was bedeutet, dass sie gezwungen sind, zu bestimmten Zeiten im Jahr aufgrund von Mangel an Geld oder anderen Ressourcen Abstriche bei der Qualität und/oder Quantität der verzehrten Lebensmittel zu machen. Insgesamt hatte fast jeder dritte Mensch (29,6%) auf der Welt im Jahr 2022 keinen ganzjährigen Zugang zu angemessener Nahrung – ein Anstieg um fast 391 Millionen Menschen seit 2019, dem Jahr vor Pandemiebeginn. Von diesen 2,4 Milliarden Menschen, die von moderater und schwerer Ernährungsunsicherheit betroffenen sind, waren 900 Millionen von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, was bedeutet, dass ihnen die Nahrungsmittel ausgingen, sie Hunger litten und im Extremfall einen Tag oder länger nichts zu essen hatten. Dies ist ein Anstieg um 50 Millionen Menschen im Vergleich zu 2019. Auch eine gesunde Ernährung ist für unzählige Menschen unerschwinglich geworden. 2021 konnten sich fast 3,1 Milliarden Menschen keine gesunde Ernährung leisten, 134 Millionen mehr als noch 2019. Die gute Nachricht ist, dass die Zahl im Vergleich zu 2020 um 52 Millionen sank.

Der Bericht zeichnet auch ein düsteres Bild von der Ernährungssituation bei Kindern. Geschätzt 45 Millionen Kinder unter fünf Jahren (6,8% aller Kinder dieser Altersgruppe) litten an Auszehrung (wasting), wodurch sich das Sterberisiko für Kinder extrem erhöht. Darüber hinaus waren 148 Millionen oder 22,3% aller Kinder unter fünf Jahren in ihrem Wachstum und ihrer Entwicklung zurückgeblieben (stunting), was bedeutet, dass sie aufgrund eines chronischen Mangels an essenziellen Nährstoffen in ihrer Ernährung zu klein für ihr Alter sind. Seit dem Jahr 2000 sank der Anteil deutlich – damals war noch jedes dritte Kind betroffen. Übergewicht bei Kindern ist hingegen in vielen Ländern auf dem Vormarsch, was auf Bewegungsmangel und den vermehrten Zugang zu stark verarbeiteten Lebensmitteln zurückzuführen ist. Weltweit waren 5,6 % alle Kinder 2022 übergewichtig und damit 37 Millionen Kinder. „Mangelernährung ist eine große Bedrohung für das Überleben, das Wachstum und die Entwicklung von Kindern“, erklärte Catherine Russell, Exekutivdirektorin von UNICEF. „Das Ausmaß der Ernährungskrise erfordert deutlichere, auf Kinder ausgerichtete Antworten. Dazu gehören der vorrangige Zugang zu nährstoffreichen und erschwinglichen Nahrungsmitteln und grundlegenden Ernährungsdienstleistungen, der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor nährstoffarmen, stark verarbeiteten Lebensmitteln und die Stärkung der Lebensmittel- und Nahrungsversorgungsketten, einschließlich angereicherter und therapeutischer Nahrung für Kinder.“

Die Aussichten für die Zukunft sehen düster aus. Das Ziel, den Hunger bis 2030 zu beenden, rückt in immer weitere Ferne. Laut aktuellen Prognosen werden dann immer noch fast 600 Millionen Menschen von Unterernährung betroffen sein. Das ist eine ähnlich hohe Zahl wie 2015, als das Ziel im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung festgelegt wurde. Von den prognostiziert 600 Millionen Hungernden werden 119 Millionen Menschen aufgrund der Pandemie- und Kriegsfolgen von Hunger betroffen sein, rechnen die Verfasser*innen des Berichts vor. Allein ohne den Krieg gegen die Ukraine würden 23 Millionen Menschen weniger hungern. „Der Hunger nimmt zu, während die Ressourcen, die wir zum Schutz der am stärksten benachteiligten Menschen dringend benötigen, gefährlich knapp werden“, beklagt WFP- Exekutivdirektorin Cindy McCain. „Als humanitäre Helfer*innen stehen wir vor der größten Herausforderung, die wir je erlebt haben. Die Weltgemeinschaft muss schnell, klug und mitfühlend handeln, um den Kurs zu ändern und den Hunger zu besiegen.“ IFAD-Präsident Alvaro Lario ist weiterhin optimistisch, dass eine Welt ohne Hunger möglich ist: „Wir können den Hunger bewältigen, wenn wir dies zu einer globalen Priorität machen“, betont er. „Was uns fehlt, sind die Investitionen und der politische Wille, Lösungen in großem Umfang umzusetzen. Investitionen in Kleinbauern und in ihre Anpassung an den Klimawandel, den Zugang zu Produktionsmitteln und Technologien sowie in den Zugang zu Finanzmitteln für die Gründung kleiner landwirtschaftlicher Betriebe können viel bewirken. Kleinerzeuger sind ein Teil der Lösung. Wenn sie richtig unterstützt werden, können sie mehr Lebensmittel produzieren, ihre Produktion diversifizieren und sowohl Märkte im städtischen als auch im ländlichen Raum beliefern - und so ländliche Gebiete und Städte mit nahrhaften und lokal angebauten Lebensmitteln versorgen.“ (ab)

03.07.2023 |

HLPE fordert Reduzierung der Ungleichheit in Ernährungssystemen

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Bäuerin in Vietnam (Foto: CC0/Pixabay)

Die Welt ist gekennzeichnet durch enorme Ungleichheiten, die gerade in Ernährungssystemen besonders stark ausgeprägt sind: Das bereits alarmierende Ausmaß an Hunger und Unterernährung verschärft sich weiter und globale und nationale Ziele in diesem Bereich drohen in weite Ferne zu rücken, wenn Ungleichheiten nicht endlich verringert werden. Das ist die Kernbotschaft eines Berichts, der vom Hochrangigen Expertengremium für Ernährungssicherheit und Ernährung (HLPE) des Welternährungsausschuss (CFS) verfasst wurde. Das CFS ist das inklusivste Gremium auf UN-Ebene, das sich mit der Welternährung befasst, da ihm neben Vertreter*innen von Regierungen, internationalen und UN-Organisationen auch Akteure aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und dem Privatsektor angehören. Der HLPE liefert dem CFS die wissenschaftliche Expertise und Handlungsempfehlungen und legte 2019 einen vielbeachteten Bericht zu Agrarökologie vor. Der neueste und 18. Themenbericht des Gremiums „Reducing inequalities for food security and nutrition” wurde am 15. Juni auf einer Veranstaltung in Rom vorgestellt. „Er zeigt, dass die Lage im Bereich Ernährungssicherheit und Ernährung von Region zu Region sehr unterschiedlich aussieht, aber keine einzige Region ist frei von jeglichen Formen der Mangelernährung, d.h. jede Region hat zumindest mit einem Aspekt davon zu kämpfen. Aber innerhalb der Regionen gibt es große Unterschiede“, erklärte Bhavani Shankar, Professor für Ernährung und Gesundheit an der Universität Sheffield, der bei der Erstellung des Berichts die Federführung innehatte. „Die Ungleichheiten innerhalb von Ländern sind enorm, in vielen Fällen nehmen sie sogar zu und das ist ein großer Teil des Problems. Und jene Gruppen, die in puncto Ernährungssicherheit am schlechtesten dastehen, sind Frauen, Menschen mit geringerer Bildung, indigene Völker und arme Menschen“, sagte er in Rom. Der Vorsitzende des HLPE, Bernard Lehmann, schreibt im Vorwort des Berichts: „Ungleichheiten bei Ernährungssicherheit und Ernährung bestehen im gesamten Ernährungssystem, vom Hof bis zum Teller. Dazu gehören der ungleiche Zugang zu Ressourcen für die Lebensmittelproduktion und zu Marktchancen für Kleinbauern, ungleiche Machtverhältnisse zwischen großen Lebensmittelkonzernen und Erzeugern sowie der ungleiche Zugang zu angemessenen und nahrhaften Lebensmitteln für Verbraucher.“

Der Bericht umfasst sechs Kapitel, wovon das erste den konzeptionellen Rahmen liefert. Die Autor*innen erklären, warum der Kampf gegen Ungleichheit wichtig ist. Ungleichheit bedrohe Fortschritte im Bereich Ernährungssicherheit und Ernährung. Zudem schreiben globale Ziele wie die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) sowie Menschenrechtspakte die Beseitigung von Ungleichheit vor. Darüber hinaus gebiete es der natürliche Sinn für menschliche Gerechtigkeit und Fairness, der auch der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zugrunde liegt. Der Bericht definiert Ungleichheiten in Ernährungssystemen „als die beobachteten Unterschiede in der Ernährungssituation oder bei damit verbundenen Faktoren in Ernährungssystemen (z.B. dem Zugang zu Ressourcen für die Lebensmittelproduktion) zwischen Einzelpersonen und Gruppen (aufgeschlüsselt nach sozialer, wirtschaftlicher und geografischer Lage)“. Ein Diagramm veranschaulicht den konzeptionellen Rahmen und zeigt, wie die Ernährungssicherheit und Ernährung verbessert werden können, indem Ungleichheiten in Ernährungssystemen und in anderen damit verbundenen Systemen wie Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur, die alle für die Ernährungssicherheit relevant sind, angegangen werden. Ein nachhaltiger Wandel sei nur möglich ist, wenn die systemischen Treiber und Grundursachen von Ungleichheit verstanden und bekämpft würden.

Kapitel 2 beschreibt Muster und Trends bezüglich der Ungleichheit. „Zwar betreffen Ungleichheiten bei der Ernährungssicherheit vor allem die Bevölkerung in Afrika, Südasien und der Karibik, doch sie bestehen überall“, erklären die Autor*innen. Trotz Erfolgen beim Kampf gegen die Unterernährung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen untergräbt der weltweite Anstieg von Übergewicht und Fettleibigkeit bei Erwachsenen und Kindern bisherige Fortschritte. Zudem hat sich der Hunger in den meisten Weltregionen seit 2015 verschlimmert. Blickt man auf die Regionen, in die die Welt für den Welthungerbericht (SOFI) unterteilt wird, ist in Afrika der Anteil der Unterernährten mit 37,7% in Zentralafrika am höchsten, wozu Länder wie der Tschad und die Demokratische Republik Kongo gehören. In der Region „Lateinamerika und Karibik“ ist die Karibik besonders stark betroffen und 30,5% der Menschen sind unterernährt, während in Asien der Anteil mit 21% in Südasien und in „Nordamerika und Europa“ in Südeuropa mit 2,8% am höchsten ist. Bei der Ernährungslage gibt es auch geschlechtsspezifische Unterschiede und die Kluft wird hier immer breiter. Weltweit sind zahlenmäßig mehr Frauen als Männer von Hunger betroffen und der Schweregrad der Ernährungsunsicherheit ist bei Frauen höher. Zudem sind Menschen mit Behinderungen stärker bedroht, da sie auch häufiger in Armut leben. Studien zeigen dem HLPE zufolge, dass indigene Erwachsene in Australien ein fünf- bis siebenmal höheres Risiko haben, von Ernährungsunsicherheit betroffen zu sein als ihre nicht-indigenen Altersgenossen. In den USA ist der Anteil schwarzer, nicht-hispanischer Haushalte, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, mit 22,7% höher als bei weißen, nicht-hispanischen Haushalten mit 8,7%. Die Autor*innen stellen fest, dass mehr qualitative und besser nach Geschlecht, Standort, wirtschaftlichem Status, ethnischer Zugehörigkeit und anderen Faktoren aufgeschlüsselte Daten erforderlich sind, um Ungleichheiten in Ernährungssystemen systematisch zu quantifizieren und nachzuverfolgen.

Kapitel 3 untersucht die unmittelbaren Treiber von Ungleichheiten in Ernährungssystemen und verwandten Systemen. Die Autor*innen fokussieren sich auf drei Bereiche im Ernährungssystem: Ungleichheiten bei Ressourcen für die Lebensmittelproduktion, in Lebensmittelversorgungsketten sowie im Lebensmittelumfeld und beim Verhalten der Verbraucher*innen. Erstens bestehen nach wie vor große Ungleichheiten beim Zugang zu Ressourcen für den Anbau von Lebensmitteln. Ein klassisches Beispiel dafür ist die große und zunehmende Ungleichheit beim Landbesitz. Rund um den Globus und in den meisten Regionen der Welt mit Ausnahme Afrikas hat die Ungleichheit beim Landbesitz, gemessen am Gini-Koeffizienten, seit 1975 zugenommen. Zweitens ist in den Versorgungsketten der ungleiche Zugang zu Finanzdienstleistungen eine Ursache von Ungleichheit: Für kleine Lebensmittelproduzenten und -unternehmen gibt es seit langem erhebliche Hürden bei der Inanspruchnahme von Krediten, Versicherungen und anderen Finanzprodukten, oder sie haben keinen Zugang zu Informationen und Technologien. Außerdem sind sie nur begrenzt in der Lage, sich an modernen Wertschöpfungsketten und Märkten, an Lagerung, Verarbeitung und Vertrieb sowie am internationalen Handel zu beteiligen und davon zu profitieren. „Große Händler, Verarbeiter und Einzelhändler wollen die Transaktionskosten für den Kauf kleinerer Mengen von mehreren Kleinbauern nicht tragen. Daher legen sie oft Mindestmengen und/oder Qualitätsstandards fest, die Kleinerzeuger kaum erfüllen können, vor allem wenn die Modernisierung und die Investition in Betriebsmittel eine Finanzierung und bessere Informationen erfordern“, erklären die Autor*innen das Dilemma. Drittens sind im Lebensmittelumfeld vor allem einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Minderheiten von Ungleichheiten und damit verstärkt von Ernährungsunsicherheit betroffen. Unmittelbar befeuert werden Ungleichheiten in Ernährungssystemen auch durch Probleme in anderen Systemen, wie der fehlende Zugang zum Gesundheit, Wasser und Bildung.

Kapitel 4 sucht nach den systemischen Treiber und tieferen Ursachen für Ernährungssicherheit und -ungleichheit. Viele Faktoren, die sich auf Ernährungssysteme auswirken, haben laut HLPE ihren Ursprung in diesen Systemen selbst. So schaden Klimawandel und Umweltzerstörung etwa den in Ernährungssektor arbeitenden Menschen und stellen eine Bedrohung für ihre Ernährungssicherheit und Ernährung dar, gerade dort, wo Menschen und Orte am stärksten von Veränderungen betroffen sind. Zugleich sind Ernährungssysteme Haupttreiber des Klimawandels, ebenso wie für den Verlust der biologischen Vielfalt und die Übernutzung von Wasser und Böden. Weitere Ursachen sind (markt)wirtschaftliche Faktoren, die das globale Ernährungssystem grundlegend verändert haben, indem sie Marktdynamiken, Finanzströme und Handelsmuster so gestalteten, dass Macht- und Eigentumsverhältnisse gefestigt wurden. Hierbei steche die Gestaltung und das Ausmaß des internationalen Handels sowie der Einfluss einer kleinen Anzahl privater Akteure hervor, die zunehmend die Kontrolle über die Marktgestaltung innehätten. „Dies hat die Ernährungsgewohnheiten auf komplexe Weise verändert und die Handlungsmacht der meisten Beschäftigten im Ernährungssystem eingeschränkt. Auch wenn es gewisse ernährungsbedingte Vorteile gibt, besteht die Sorge, dass der Übergang zu einer westlichen, Übergewicht befördernden Ernährungsweise die Ernährungslage verschlimmert, zunächst die Wohlhabenderen betrifft, aber dann allmählich zu einem Problem für die am stärksten marginalisierten oder sozioökonomisch benachteiligten Teile der Gesellschaft wird.“ Der Bericht benennt aber auch politische und institutionelle Faktoren wie Gewalt und bewaffnete Konflikte sowie Politik und Governance (z. B. Landpolitik, Agrarpolitik oder Arbeitsmarktvorschriften). Zudem erzeugten und verstärkten soziokulturelle Faktoren wie kulturelle Normen oder geschlechtsspezifische Gewalt bestehende Ungleichheiten.

Kapitel 5 benennt Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungssicherheit und stellt Bereiche vor, denen Priorität einzuräumen ist, da sie das größte Potenzial zur Verringerung von Ungleichheiten aufweisen. Die Maßnahmen werden in vier Hauptkategorien eingeteilt: Lebensmittelproduktion, Versorgungsketten, Lebensmittelumfeld und -konsum sowie Rahmenbedingungen, allgemeiner Kontext und Governance. Bei der Lebensmittelproduktion nennt er Maßnahmen zur Schaffung eines gleichberechtigteren Zugangs zu Land, Wäldern, Vieh und Fischerei, die Anwendung agrarökologischer Prinzipien, die Gründung inklusiver Erzeugerorganisationen und mehr Geld für eine gerechtigkeitsorientierte öffentliche Forschung im Bereich Agrar- und Ernährungssysteme sowie andere öffentliche Investitionen im ländlichen Raum. Letzteres umfasst etwa die Beachtung von Aspekten der Gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit bei der Strategieplanung, denn dies kann z.B. bewirken, dass auf Nutzpflanzen oder Tierarten gesetzt wird, die für die Ernährungssicherheit der Haushalte, für marginalisierte Gruppen und Gegenden oder für schlechte Böden ohne künstliche Bewässerung besonders geeignet sind. Was die Lieferketten anbelangt, so priorisiert der HLPE inklusive Ansätze für die Wertschöpfungskette, die Entwicklung von Arbeitsschutzmaßnahmen, -strategien und -programmen für Beschäftigte im Ernährungssystem, die Berücksichtigung territorialer Ansätze bei der Vorhaben zu Ernährungssystemen und Regionalentwicklung, Investitionen in eine gerechtigkeitsorientierte Infrastruktur für Lagerung, Verarbeitung und Vertrieb von Lebensmitteln sowie Investitionen in verbesserte Informationssysteme, die digitale Technologien nutzen. Mit Blick auf Umgebung und Konsum von Lebensmitteln sind die wichtigsten Aktionsbereiche die Planung und Steuerung des Lebensmittelumfelds, sodass alle Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung Zugang zu günstigen, nahrhaften, sicheren und kulturell angemessenen Lebensmitteln haben, die Einbeziehung von Erkenntnissen über menschliche Verhaltensmuster bei der Ernährung in die Gestaltung von Politiken und Programmen sowie die Stärkung sozialer Sicherungssysteme.

Das sechste Kapitel enthält Empfehlungen für eine grundlegende Umgestaltung der Ernährungssysteme. Es gibt zehn allgemeine Empfehlungen, die in vier Gruppen unterteilt sind, aber die 10 Hauptempfehlungen sind unterfüttert mit vielen Unterpunkten, d.h. genauere und präzisere Empfehlungen, erläutert Bhavani Shankar bei der Präsentation, die als Video online abrufbar ist. Cluster A konzentriert sich auf die Beseitigung von Ungleichheiten in Ernährungssysteme. Die erste Hauptempfehlung lautet daher, dass „Staaten, zwischenstaatliche Organisationen, der Privatsektor und die Zivilgesellschaft sektorübergreifend zusammenarbeiten sollten, um einen gerechteren Zugang zu Land, Wäldern, Wasserressourcen und anderen Ressourcen für die Lebensmittelproduktion zu gewährleisten, indem sie rechtebasierte Ansätze anwenden“. Als Unterpunkt empfehlen die Autor*innen, die Land- und Ressourcenrechte von Frauen, Bauern, indigenen Völkern und anderen marginalisierten Gruppen zu stärken, einschließlich der rechtlichen Anerkennung und des Erbrechts. Cluster B befasst sich mit Ungleichheiten in anderen Systemen. Eine Empfehlung lautet, dass Staaten den allgemeinen Zugang zu Dienstleistungen und Ressourcen sicherstellen sollten, die sich direkt auf die Ernährungssicherheit und Ernährung auswirken. Präzisiert wird dies damit, dass Staaten den universellen Zugang zu allen mit Ernährung in Zusammenhang stehenden Dienstleistungen gewährleisten müssen, darunter zu medizinischer Grundversorgung, Impfungen, Ernährungsbildung, sanitären Einrichtungen und sauberem Trinkwasser, um nur einige Beispiele zu nennen. Cluster C enthält Empfehlungen zur Bekämpfung sozialer und politischer Ursachen von Ungleichheit. Cluster D liefert Vorschläge zur Stärkung von Daten- und Wissenssystemen, die notwendig sind, um ein besseres Verständnis für Gerechtigkeitsaspekte in allen Bereichen zu bekommen, die für Ernährungssicherheit und Ernährung von Relevanz sind. Alle Empfehlungen mit weiteren Ausführungen und Bespielen sind im englischen 200-Seiten-Bericht oder der etwas knackigeren Zusammenfassung zu finden. (ab)

02.06.2023 |

Keine Grüne Revolution für Afrika: Studie belegt Scheitern von AGRA

Ghana
Bäuerin in Ghana (Foto: CC0)

Die Agrarinitiative „Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika“ (AGRA) hat nicht nur ihre Ziele verfehlt, sondern ihre Maßnahmen haben auch negative Folgen für die Menschen und die Umwelt in den Projektländern. Obwohl zivilgesellschaftliche Organisationen schon lange vor den negativen Auswirkungen des von AGRA verfolgten Entwicklungsansatzes warnen, förderte die Bundesregierung die Allianz weiter mit mehreren Millionen Euro. Das zeigt ein am 1. Juni von Brot für die Welt, FIAN Deutschland, Forum Umwelt und Entwicklung, INKOTA-netzwerk und der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebener Bericht. Mit mehr als zwei Jahren Verzug hatten das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) Ende 2022 eine Zwischenevaluierung der von ihnen finanzierten AGRA-Projekte in Burkina Faso und Ghana veröffentlicht. Dieses Dokument werteten die Organisationen nun aus. AGRA wurde 2006 von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung und der Rockefeller-Stiftung geschaffen. Mit kommerziellem Hochertragssaatgut, Pestiziden und synthetischen Düngemitteln sollten die Einkommen von Millionen kleinbäuerlicher Haushalte verdoppelt und sie von Hunger und Armut befreit werden. Doch stattdessen werden die Bauern durch AGRA in teure Abhängigkeiten von externen Inputs gebracht, bemängeln die Organisationen.

Die Zwischenevaluierung wurde für die AGRA-Projekte in Burkina Faso und Ghana von MDF West Africa, einer Consulting-Agentur in Ghana, durchgeführt. Sie befasst sich mit der ersten Projektphase 2017-2022, in der das BMZ und die KfW in Burkina Faso und Ghana insgesamt vier AGRA-Projekte mit circa 10 Millionen Euro unterstützen. In den Projekten wurde der Einsatz von teuren industriellen Betriebsmitteln, wie synthetischem Dünger, Pestiziden und industriellem Saatgut gefördert. „Ohne die kontinuierliche externe Weiterfinanzierung dieser Substanzen können sich die Bäuerinnen und Bauern diese nach der Beendigung der Projekte nicht mehr leisten“, sagt Jan Urhahn, Agrarexperte der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Denn das von AGRA aufgebaute System des Zugangs zu und der Verteilung von externen industriellen Betriebsmitteln durch Berater*innen auf Dorfebene (village-based advisors - VBAs) ist nach Projektende massiv gefährdet. „AGRA hat mit dem Einsatz von VBAs ein Abhängigkeitssystem aufgebaut, das damit beginnt, dass sich VBAs auf die Versorgung mit externen industriellen Betriebsmitteln durch das Projekt verlassen. AGRA-Projekte begünstigen damit, dass Bäuerinnen und Bauern nicht nur in Abhängigkeit zu den von Projektseite empfohlenen Betriebsmitteln, sondern auch in eine Abhängigkeit zu den Unternehmen gebracht werden, die diese Betriebsmittel herstellen und vertreiben“, schreiben die NGOs in ihrer Bewertung. Bricht die Versorgung durch AGRA und deren Finanziers weg, gelangen die Bäuer*innen nicht mehr an die Betriebsmittel, von denen sie im Rahmen der Projekte abhängig gemacht wurden. „Dies widerspricht der Behauptung von AGRA, kleinbäuerliche Landwirtschaft könne zu einem erfolgreichen ‚Business‘ gemacht werden, das sich von selbst trägt“, sagt Urhahn. Auch angesichts der infolge der COVID-19-Pandemie und des Angriffskriegs auf die Ukraine seit zwei Jahren stark gestiegenen Preise für industrielle Betriebsmittel sei der AGRA-Ansatz wenig ökonomisch nachhaltig.

Schon frühere, AGRA-eigene Evaluierungen hatten zudem das Problem der Überschuldung durch Kreditaufnahme für die von AGRA beworbenen externen industriellen Betriebsmittel belegt. Auch die Zwischenevaluierung stellt fest, dass die Überschuldung von Bäuer*innen ein weit verbreitetes Phänomen gerade in Ghana ist. Dort sollen 41% der Reisbäuer*innen sowie 33% der Cassavabäuer*innen große Probleme haben, ihre Kredite zurückzuzahlen. MDF stellt diese Überschuldung jedoch als allgemeines Problem ohne Bezug zu AGRA dar. Außerdem wurde bei der Befragung der überschaubaren Anzahl an Bäuer*innen gar nicht nach einem möglichen Zusammenhang zwischen AGRA-Projekten und der Überschuldung gefragt, wundern sich die NGOs. Den Landwirt*innen wird zudem in Schulungen die Verwendung des an die Marktnachfrage angepassten Saatguts und synthetischer Düngemittel nahegelegt, während organischer Dünger oder lokal angepasste traditionelle Saatgutsorten keine Rolle spielen. Somit wird ihre Wahlfreiheit stark eingeschränkt. Die Evaluation hebt als positiv hervor, dass Saatgutunternehmen durch die Projekte in Gebiete vordringen konnten, in denen sie zuvor nicht tätig waren. „Davon profitieren einseitig Saatgut- und andere Betriebsmittelkonzerne, weil neue Absatzmärkte für ihre Produkte geschaffen werden“, kritisieren die NGOs. Das wird flankiert durch Lobbyarbeit von AGRA in den Projektländern, mit dem Ziel, nationale Gesetze oder Rahmenwerke für die Zulassung und Vermarktung von synthetischen Düngemitteln und industriellem Saatgut zu vereinfachen. Die Möglichkeit der Bäuer*innen, lokales Saatgut zu vermehren und ohne Kosten wiederzuverwenden, wird zunehmend eingeschränkt.

„Obwohl die wirtschaftliche Ausbeutung von Kindern eine nicht akzeptable Menschenrechtsverletzung ist, wurde sie bei der Evaluierung in den AGRA-Projekten festgestellt. Das ist nicht hinnehmbar“, sagt Roman Herre, Agrarreferent bei FIAN Deutschland. Beispielsweise wurde berichtet, dass junge Kinder mit aufs Feld gebracht wurden, um fehlende Arbeitskräfte zu ersetzen. Oft schälten Kleinkinder Cassava für die Weiterverarbeitung zu Stärke und „diese Praxis erschien recht systematisch und nicht zufällig“, heißt es in der Evaluation. „Vor allem vor dem Hintergrund, dass sich das BMZ für die Beendigung von Kinderarbeit und die Verwirklichung entsprechender UN-Konventionen einsetzt. Dieser Umstand muss umgehend angegangen werden“, fordert Herre. Die Organisationen kritisieren, dass die Berücksichtigung und Umsetzung zentraler Menschenrechte – wie das Recht auf Nahrung oder der Schutz von Kindern vor wirtschaftlicher Ausbeutung – in der Evaluation nicht systematisch überprüft wird. Auch das für die KfW verbindliche Menschenrechtskonzept des BMZ wird nicht einbezogen. „Während die Zwischenevaluierung an einigen Stellen versichert, dass die Projekte keine wesentlichen sozialen Verwerfungen hervorriefen, werden gleichzeitig an anderen Stellen Fälle von absichtlicher und systematischer Kinderarbeit bestätigt“, heißt es in der Auswertung. MDF schreibt: „AGRA hofft, dass mit steigenden landwirtschaftlichen Einkommen solche Praktiken verschwinden und die Kinder stattdessen zur Schule gehen werden. Wir kommen zu dem Schluss, dass die Projektträger zwar keine Schuld an einigen unglücklichen Gegebenheiten in den Projektgebieten tragen, dass aber auch keine großen Anstrengungen unternommen wurden, um diese zu beheben.“

Die Evaluierung zeigt zudem, dass Bäuer*innen aus Burkina Faso Umweltschäden durch den Einsatz von Pestiziden in AGRA-Projekten feststellen. „Die Umweltschäden werden in der Tat immer sichtbarer. Die Landwirte nennen Bodenerosion, die Verschlechterung der Bodenfruchtbarkeit, die Notwendigkeit, immer mehr Düngemittel zu verwenden, um produktiv zu sein, sowie das Verschwinden von bisher verbreiteten Insekten und Bodenwürmern und das vermehrte Auftreten von Superunkräutern. Als mögliche Ursachen nannten die Landwirte den Raubbau am Boden und den Einsatz falscher Herbizide und Pestizide“, schreibt MDF. In AGRA-Projekten in Ghana kommen zudem in der EU verbotene Pestizide, wie die Wirkstoffe Propanil und Permethrin unrechtmäßig zum Einsatz. Dies verstößt gegen den „Referenzrahmen für Entwicklungspartnerschaften im Agrar- und Ernährungssektor“ des BMZ und gegen die Sozial- und Umweltstandards der Weltbank, betonen die NGOs. Beide Standards sind für den Einsatz in KfW-Projekten, die von der Bundesregierung finanziert werden, verpflichtend. Zwar lobt die Zwischenevaluierung, dass es durch AGRA-Interventionen zu einer Steigerung von Erträgen und Einkommen und zu einer Verbesserung der Ernährungssicherheit gekommen sei. Dafür fehlen jedoch wissenschaftlich fundierte Daten, was unter anderem auf fehlende Basisdatenerhebungen vor dem Beginn der Projekte, oder auf kleine, nicht repräsentative Erhebungen und die kurze Zeitspanne der Evaluierung zurückzuführen ist. Selbst die Evaluierung kommt an einer Stelle zu dem Ergebnis, dass die „Daten nicht zuverlässig und nützlich“ seien.

Die NGOs melden sich nicht zum ersten Mal zu Wort. Die Ergebnisse der Studie „Falsche Versprechen“ aus dem Jahr 2020 sowie die Analyse der AGRA-eigenen Evaluierungen aus dem Jahr 2021 (Weltagrarbericht berichtete zu beidem) haben bereits dargestellt, dass die AGRA-Ziele in den 13 AGRA-Schwerpunktländern, zu denen Burkina Faso und Ghana gehören, nicht erreicht wurden. Ursprünglich sollten die Ergebnisse der Zwischenevaluierung zur ersten Projektphase als Basis für die Entscheidung dienen, ob das BMZ in einer zweiten Projektphase AGRA weiter finanziert. Doch bereits im Jahr 2020 stellte das BMZ weitere 15 Millionen Euro für die Jahre 2022 bis 2025 bereit, vor allem für Projekte in Burkina Faso und Nigeria. „Die Entscheidung des BMZ, AGRA weiterhin zu fördern und die Fördersumme anzuheben, wurde ohne eine empirisch belastbare Grundlage und trotz substanzieller und fundierter Kritik seitens der Zivilgesellschaft getroffen“, kritisieren die NGOs. Zwar hatte Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze bereits im Frühjahr 2022 angekündigt, die AGRA-Kooperation der Bundesregierung infrage zu stellen, aber konsequent wäre es, die Förderung von AGRA vorzeitig einzustellen, fordern die Organisation. „Mit den Ergebnissen der eigenen Evaluierung bleibt als einzig logische Konsequenz der direkte Ausstieg aus AGRA“, fordert Silke Bollmohr, Landwirtschaftsexpertin beim INKOTA-netzwerk. Statt der Weiterfinanzierung von AGRA solle das BMZ das Recht auf Nahrung und die Agrarökologie zum Kompass deutscher Entwicklungspolitik machen und alle Projekte mit klaren Maßnahmen und messbaren Zielen unterlegen. (ab)

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