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15.09.2023 |

Sechs Belastungsgrenzen des Planeten bereits überschritten

OpSpace23
Bild: Richardson et al., Science Advances, 2023 (bit.ly/PIKBild, CC BY-NC 4.0, bit.ly/CCBY-NC40)

Um den Zustand der Erde ist es nicht gerade rosig bestellt: Von neun planetaren Belastungsgrenzen wurden bereits sechs überschritten und unser Planet befindet sich damit deutlich jenseits des sicheren Handlungsraums für die Menschheit. Ob beim Klimawandel, der Intaktheit der Biosphäre, Entwaldung, der Einbringung neuartiger Stoffe, Wassernutzung oder beim Stickstoff- und Phosphorkreislauf: Der Mensch hat gravierend eingegriffen in das System Erde und es gehörig aus dem Gleichgewicht gebracht. Das zeigt eine Studie, die am 13. September im Fachblatt „Science Advances“ erschienen ist. Die beteiligten 29 Autor*innen warnen, dass der Druck im Kessel weiter steigt. „Wir können uns die Erde als einen menschlichen Körper vorstellen und die planetaren Grenzen als eine Form des Blutdrucks“, erklärt die Hauptautorin der Studie, Katherine Richardson von der Universität Kopenhagen. „Ein Blutdruck von über 120/80 bedeutet zwar nicht, dass ein sofortiger Herzinfarkt droht, aber er erhöht das Risiko.“ Und die aktuellen Fieber- und Blutdruckmessungen der Wissenschaftler*innen zeigen ein düsteres Gesamtbild. „Wissenschaft und Gesellschaft sind äußerst besorgt über die zunehmenden Anzeichen, dass die Widerstandsfähigkeit des Planeten schwindet, wie sich in der Überschreitung der planetaren Grenzen zeigt. Dies bringt mögliche Kipppunkte näher und verringert die Chance, die wir noch haben, die planetare Klimagrenze von 1,5°C einzuhalten“, sagte Johan Rockström, Mitautor der Studie und Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).

Die Studie ist bereits die zweite Aktualisierung der Planetaren Grenzen seit der im Jahr 2009 in der Zeitschrift Nature veröffentlichten ersten Bestandsaufnahme und einem Update 2015. Damals waren der Bereich der neuen gefährlichen Substanzen, der atmosphärische Aerosolgehalt und bei der Intaktheit der Biosphäre die funktionale Vielfalt unbestimmt geblieben. Bei der neuen Veröffentlichung wurden nun erstmals alle neun Prozesse und Systeme, welche zusammen die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Planeten bestimmen, vollständig überprüft. „Dieses Generalupdate der Planetaren Grenzen zeigt deutlich: die Erde ist ein Patient, dem es nicht gut geht. Der Druck auf den Planeten nimmt weiter zu, dabei werden lebenswichtige Belastungsgrenzen überschritten“, sagt Rockström. Wir wissen nicht, wie lange wir entscheidende Grenzen derart überschreiten können, bevor die Auswirkungen zu unumkehrbaren Veränderungen und Schäden führen.” In einer Grafik ist mittig ein runder grüner Bereich zu sehen – der sichere Handlungsbereich der Menschheit. Die neun planetaren Grenzen sind als Tortenstücke dargestellt. Im grünen Kreis befinden wir uns noch bei der Belastung der Atmosphäre durch Aerosole – Kleinstpartikel wie etwa Ruß in der Luft, die bei Verbrennungsprozessen entstehen. Die Datenlage ist hier aber dünn. Der Studie zufolge kann es jedoch regional zu Überschreitungen kommen, z.B. in Südasien, da sich der Aerosolgehalt auf Niederschlagsmuster auswirkt und es so in Monsunregionen wohl weniger Niederschläge geben wird. Ebenfalls noch grün eingefärbt ist der Bereich Versauerung der Ozeane, doch auch hier könnte die kritische Grenze bald überschritten sein. Beim Ozonabbau in der Stratosphäre gibt es grünes Licht: Hier ist die Belastung zurückgegangen und es gibt lediglich noch regionale Überschreitungen. „Obwohl das in der Antarktis immer noch der Fall ist, zeichnet sich bereits eine Verbesserung ab – dank globaler Initiativen, die durch das Montrealer Protokoll erreicht wurden“, betont Richardson.

In der Grafik ragen die Tortenstücke in den neun Bereichen unterschiedlich lang über den grünen Kreis in der Mitte hinaus. Die Länge der „Wedges“ zeigt an, wie der aktuelle Zustand des jeweiligen Prozesses in Bezug auf den Abstand zur planetaren Grenze (Ende des grünen Bereiches) und zum holozänartigen Basiswert (Ursprung des Diagramms) ist. Die Stücke werden mit zunehmendem Risiko gelb bis rot eingefärbt. Ein hohes Risiko ist lilafarben gekennzeichnet. Manche Tortenstücke werden erst später lila als andere, weil die Überschreitung möglicherweise mit einem geringeren Risiko für den Planeten einhergeht als in anderen Bereichen. Im Bereich „Integrität der Biosphäre“ ist die größte Grenzüberschreitung bei der Artenvielfalt zu beobachten. „Von schätzungsweise 8 Millionen Tier- und Pflanzenarten sind etwa 1 Million vom Aussterben bedroht, und mehr als 10% der genetischen Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt könnten in den letzten 150 Jahren verloren gegangen sein. Damit ist die genetische Komponente der Integritätsgrenze der Biosphäre deutlich überschritten“, schreiben die Autor*innen. Für die zweite Komponente, die Funktionsfähigkeit (Integrität) der Biosphäre im Erdsystem, die bisher noch unbestimmt war, wurde eine neue Kontrollvariable für die Grenze eingeführt. Die Analyse ergab auch hier eine Überschreitung, welche schon seit dem späten 19. Jahrhundert besteht, als die Land- und Forstwirtschaft weltweit stark ausgedehnt wurde. „Neben dem Klimawandel ist die Funktionsfähigkeit der Biosphäre die zweite Säule der Stabilität unseres Planeten“, erklärt Wolfgang Lucht, Leiter der Abteilung Erdsystemanalyse am PIK. „Und wie beim Klima destabilisieren wir derzeit auch diese Säule, indem wir zu viel Biomasse entnehmen, zu viele Lebensräume zerstören, zu viele Flächen entwalden usw. Unsere Forschung zeigt, dass in Zukunft beides Hand in Hand gehen muss: die globale Erwärmung begrenzen und eine funktionierende Biosphäre erhalten“, so Lucht.

Die erstmalige Bewertung zur Einbringung neuartiger Stoffe (novel entities) zeigt, dass auch hier die Grenze überschritten ist. Zu den Novel Entities gehören synthetische Chemikalien und Stoffe (z.B. Mikroplastik, endokrine Disruptoren und organische Schadstoffe), vom Menschen mobilisiertes radioaktives Material, inklusive nuklearer Abfälle und Kernwaffen, sowie die Veränderung der Evolution durch den Menschen, genetisch veränderte Organismen und andere direkte Eingriffe des Menschen in evolutionäre Prozesse. Die Wissenschaftler*innen betonen, dass die Auswirkungen dieser Stoffe auf das Erdsystem als Ganzes noch weitgehend unerforscht sind. Der Rahmen der planetaren Grenzen befasse sich nur mit der Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Erdsystems und nicht mit den Gefahren für den Menschen. Daher bleibe es „eine wissenschaftliche Herausforderung, zu beurteilen, wie viel Belastung durch neuartige Entitäten das Erdsystem verträgt, bevor es unumkehrbar in einen potenziell weniger bewohnbaren Zustand übergeht.“ Hunderttausende von synthetischen Chemikalien werden heute hergestellt und in die Umwelt freigesetzt. Bei vielen Stoffen sind die potenziell weitreichenden und dauerhaften Folgen ihrer Freisetzung auf die Prozesse des Erdsystems, gerade auf die funktionelle Integrität der Biosphäre, kaum bekannt, und ihre Verwendung ist schlecht geregelt. Die Wissenschaftler*innen geben jedoch zu bedenken, dass die Menschheit in der Vergangenheit wiederholt von unbeabsichtigten Folgen einer Freisetzung überrascht worden sei, z.B. von Insektiziden wie DDT oder der Wirkung von FCKW auf die Ozonschicht. Für diese Arten von neuartigen Substanzen sei also der einzige wirklich sichere Betriebsraum, der die Aufrechterhaltung holozänähnlicher Bedingungen gewährleisten kann, ein Raum, in dem diese Stoffe nicht vorhanden sind – es sei denn, ihre potenziellen Auswirkungen auf das Erdsystem wurden gründlich untersucht.

Ebenfalls schon im lilafarbenen Bereich angekommen sind wir bei biogeochemischen Kreisläufen, wie Stickstoff und Phosphor, die durch Landwirtschaft und Industrie stark beeinflusst wurden. Im Bereich Landsysteme stehen die Signale bereits auf Rot: Waldflächen in borealen, gemäßigten und tropische Zonen wurden abgeholzt und seit dem letzten Update der Studie 2015 hat sich für die meisten Regionen die Entwaldung verstärkt. „Landnutzungsänderungen und Feuer führen zu schnellen Veränderungen in Waldgebieten und die Abholzung im tropischen Regenwald im Amazonasgebiet hat dazu geführt, dass die planetare Grenze nun überschritten ist“, heißt es in der Studie. Beim Süßwasser steht die Ampel vorerst „nur“ auf Orange. Die Grenze bezieht sich in diesem Bereich nun sowohl auf sogenanntes „grünes“ Wasser (das in landwirtschaftlichen und natürlichen Böden und Pflanzen enthalten ist) als auch auf „blaues“ Wasser (Wasser in Flüssen, Seen usw.). Beide dieser Grenzen sind jedoch überschritten. Rockström bezeichnet es als einen „echten Durchbruch“, dass der sichere Handlungsraum für die Menschheit auf der Erde nun wissenschaftlich quantifiziert wurde. „Dies gibt uns einen Leitfaden in die Hand für notwendige Maßnahmen und liefert das erste vollständige Bild der Kapazitäten unseres Planeten, den von uns erzeugten Druck abzufedern.“ Er betont, dass das Bereitstehen dieses Wissens eine ausgezeichnete Grundlage dafür sei, durch systematischere Anstrengungen Schritt für Schritt die Widerstandsfähigkeit des Planeten zu schützen, erholen zu lassen und wieder herzustellen. In diese Richtung geht auch der abschließende Satz der Studie: „Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den planetaren Grenzen schränken die Menschheit nicht ein, sondern regen sie zu Innovationen für eine Zukunft an, in der die Stabilität des Erdsystems grundsätzlich bewahrt und gesichert wird.“ (ab)

02.08.2023 |

Erdüberlastungstag: Ressourcen für 2023 schon am 2.8. verprasst

Muellkippe
Die Kapazitäten der Erde sind endlich (Foto: CC0/Pixabay)

Dieses Jahr fällt der „Earth Overshoot Day“ auf den 2. August – die Menschheit hat an diesem Tag alle nachhaltig nutzbaren Ressourcen für das gesamte Jahr 2023 bereits aufgebraucht: Den Rest des Jahres leben wir wieder auf Kosten künftiger Generationen und übernutzen die natürlichen Ressourcen über das regenerierbare Maß hinaus. Dies ist die traurige Botschaft des „Global Footprint Network (GFN)“, einer internationalen Forschungsorganisation, die das Datum alljährlich basierend auf Daten der National Footprint and Biocapacity Accounts neu berechnet. Diese werden von der York University, Toronto mitgepflegt und stützen sich unter anderem auf UN-Datensätze. Zur Festlegung des Tages werden zwei Größen verglichen: die biologische Kapazität der Erde zum Aufbau von Ressourcen sowie zur Aufnahme von Müll und Treibhausgasemissionen und andererseits der ökologische Fußabdruck – der Bedarf an Acker-, Weide- und Bauflächen, die Entnahme von Holz, Fasern (Baumwolle) oder Fisch, aber auch der CO2-Ausstoß und die Müllproduktion. Im Ergebnis hat die Menschheit seit mehr als 50 Jahren erhebliche Defizite angehäuft, die sich zu einer ökologischen Schuld akkumulieren. Wir leben aktuell so, als hätten wir 1,7 Planeten zur Verfügung. „Der anhaltende Overshoot hat zu Land- und Bodendegradation, zur Erschöpfung der Fischbestände, zu Entwaldung, Artensterben und enormen Treibhausgasen geführt. Die Folgen treten überall auf der Welt immer klarer zutage mit ungewöhnlichen Hitzewellen, Waldbränden, Dürren und Überschwemmungen, wodurch die Konkurrenz um Nahrung und Energie verschärft wird“, schreibt das GFN in einer Pressemitteilung. „Das größte Risiko, abgesehen vom ökologischen Overshoot selbst, liegt in der Selbstgefälligkeit gegenüber dieser Krise“, sagt der Leiter der Organisation, Steven Tebbe. „Wer jetzt handelt, schützt nicht nur die Umwelt, sondern sorgt auch für eine zukunftssichere Wirtschaft und das Wohlergehen der Bevölkerung“, fügte er hinzu.

2022 fiel der Earth Overshoot Day auf den 28. Juli. Die scheinbare Verbesserung um fünf Tage im Vergleich zum Vorjahr täuscht jedoch etwas, da der tatsächliche Unterschied weniger als einen Tag ausmachte, erklärte das Netzwerk. Denn die anderen vier Tage sind dem geschuldet, dass den diesjährigen National Footprint and Biocapacity Accounts verbesserte Datensätze zugrunde liegen. Sie bilden nun das Abschneiden aller Länder bis zum Jahr 2022 ab, während im letzten Jahr die Datengrundlage nur bis 2019 reichte. Die Zahlen aus unterschiedlichen Jahren sind also nicht vergleichbar, sondern der ökologische Fußabdruck und die Biokapazitätskennzahlen aller Länder sind jedes Jahr anders und damit ändern sich auch die Daten vergangener Erdüberlastungstage. Seit 1971 ist das Datum jedes Jahr im Kalender weiter nach vorne gerückt, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Der erste Erdüberlastungsstag war am 25. Dezember 1971. In den frühen 90er Jahren lag er in der zweiten Oktoberhälfte und 2018 fiel er auf den 1. August, das bisher früheste Datum. Im Jahr 2020 rückte das Datum zurück auf den 16. August, was den anfänglichen Rückgang der Ressourcennutzung in der ersten Jahreshälfte aufgrund der pandemiebedingten Lockdowns widerspiegelt. „In den letzten 5 Jahren hat sich der Trend abgeflacht. Inwieweit dies auf die wirtschaftliche Verlangsamung oder auf bewusste Dekarbonisierungsmaßnahmen zurückzuführen ist, lässt sich nur schwer feststellen“, schreibt das Netzwerk. „Dennoch geht die Verringerung des Overshoot viel zu langsam voran. Um das IPCC-Ziel der Vereinten Nationen zu erreichen, den CO2-Ausstoß bis 2030 weltweit um 43 % gegenüber 2010 zu reduzieren, müsste der Overshoot Day in den nächsten sieben Jahren jährlich um 19 Tage verschoben werden.“

Doch das Netzwerk betont, dass es auch Lösungen gebe, um den ökologischen Overshoot umzukehren und die Regeneration des Planeten anzukurbeln. Die „Power of Possibility“-Plattform auf der Webseite des GFN zeigt, wie wir unsere Ressourcensicherheit in fünf Schlüsselbereichen (gesunder Planet, Städte, Energie, Lebensmittel und Bevölkerung) verbessern können und stellt Technologien, Regierungsstrategien, öffentliche Maßnahmen und Vorzeigeprojekte von Bürgerinitiativen und aus der Wissenschaft vor. Die Ernährung ist dabei ein zentraler Bereich, da die Hälfte der Biokapazität der Erde dafür verwendet wird. „Mit der wachsenden Weltbevölkerung und einer steigenden Nachfrage nach gesunden Lebensmitteln wird der ökologische Druck durch die Ernährung zunehmen, während die Lebensmittelproduktion aufgrund zunehmender Ressourcenknappheit und ungewissen Klimabedingungen vor immer größeren Herausforderungen steht“, heißt es in einem Blogbeitrag. „Aber es gibt auch großes Potenzial – ein auf Kreislaufprinzipien basierendes Ernährungssystem hat das Potenzial, den Flächenverbrauch für Lebensmittel um bis zu 71% zu reduzieren und den Treibhausgas-Ausstoß um 29% pro Person zu senken.“ Ein Kernproblem ist mangelnde Effizienz bei der Lebensmittelproduktion. Die Landwirtschaft ist stark abhängig von fossilen Brennstoffen. Zudem ist die Produktion von tierischen Kalorien deutlich ressourcenintensiver als die von pflanzlichen Kalorien, erklärt das Netzwerk. So werden in Belgien zum Beispiel 5 Kalorien fossiler Brennstoffe benötigt, um eine Kalorie Fleisch zu erzeugen. Wenn wir den weltweiten Fleischkonsum um 50% reduzieren und diese Kalorien durch eine vegetarische Ernährung ersetzen würden, könnten wir den Overshoot Day um 17 Tage verschieben (davon 10 Tage durch die Reduzierung der Methanemissionen), so die Berechnungen.

Ein weiteres Problem ist die Lebensmittelverschwendung: Etwa ein Drittel der weltweit für den menschlichen Verzehr produzierten Lebensmittel (1,3 Milliarden Tonnen pro Jahr nach Daten der Welternährungsorganisation) geht verloren oder wird verschwendet, wobei Länder mit hohem und niedrigem Einkommen in etwa die gleichen Mengen an Lebensmitteln verschwenden, wenn auch aus anderen Gründen. Wenn die Lebensmittelverschwendung weltweit um die Hälfte reduzieren würde, ließe sich der Overshoot Day um 13 Tage nach hinten verschieben. Auch Veränderungen in der Landwirtschaft können einen Beitrag leisten. Die Agroforstwirtschaft ist eine Methode, bei der Bäume zusammen mit anderen Nutzpflanzen auf derselben Fläche angebaut werden. Damit können nicht nur die Erträge der Anbauflächen gesteigert und die Bodenqualität erhalten werden, sondern es wird auch Kohlenstoff in den Böden gespeichert. Würde Agroforstwirtschaft in großem Stil betrieben, ließe sich der Overshoot Tag bis 2050 um 2,1 Tage verschieben. Weitere 1,2 Tage könnten durch verbesserten Reisanbaumethoden eingespart werden. Wenn die Reisfelder nicht ständig überflutet sind, reduziert sich der Methanausstoß. In den bereits vorliegenden Lösungen liegt ein enormes Potenzial, wenn sie in großem Stil genutzt werden, betont das Global Footprint Network. So können wir eine bessere Resilienz erzielen und den Erdüberlastungstag verschieben.

Auch deutsche Organisationen machen jedes Jahr auf den Erdüberlastungstag aufmerksam und richten Forderungen an die Politik. Die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch betont, dass es große Unterschiede gebe, was den ökologischen Fußabdruck der einzelnen Länder betrifft. „Den deutschen Erdüberlastungstag hatten wir bereits nach gut vier Monaten erreicht“, sagt Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch. „Wenn alle Menschen weltweit so wirtschaften und leben würden wie wir in Deutschland, bräuchten wir drei Planeten. Das unterstreicht die besondere Verantwortung der Industrienationen und stark emittierenden Schwellenländer.“ Die NGO weist darauf hin, dass die Nachfrage nach Futtermitteln wie Soja für die industrielle Tierhaltung oder Biokraftstoffe für die EU entscheidende Treiber für die Abholzung der Wälder weltweit seien. Das bedrohe erheblich die Artenvielfalt und beschleunige den Klimawandel. So tragen die deutschen Importe jährlich zur Abholzung von 43.000 Hektar Tropenwälder bei, was in etwa der Größe einer Millionenstadt wie Köln entspricht. Zwar habe die EU jüngst endlich mehrere Instrumente und Vorschriften beschlossen, um ihre Lieferketten nachhaltiger zu gestalten. „Das ist ein erster Meilenstein, doch er reicht noch nicht“, sagt Katharina Brandt, Referentin für Agrarpolitik bei Germanwatch. „Wir brauchen auch verpflichtende Sorgfaltspflichten für den EU-Finanzsektor, um die Finanzierung von Entwaldung verursachenden Projekten zu beenden.“ Die EU müsse sich auch mit ihrem übermäßigen Verbrauch von Rohstoffen, die viel Fläche beanspruchen und Entwaldung verursachen, auseinandersetzen. „Deshalb setzen wir uns für eine EU-Handelspolitik ein, die gemeinsam mit den Partnerländern verbindliche Menschenrechts-, Umwelt- und Sozialstandards vereinbart“, erklärt Brandt.

Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) meldete sich zu Wort und forderte die Bundesregierung auf, zügig ein Ressourcenschutzgesetz mit verbindlichen Zielen auf den Weg zu bringen. Der Ressourcenverbrauch müsse bis 2050 um 85% reduziert werden, um die Grenzen des Planeten einzuhalten. Ein solches Gesetz müsse sowohl sämtliche nicht erneuerbaren Ressourcen wie Metalle und Mineralien, aber auch Böden und Flächen, Acker- und Weideland, Fischgründe, Wald und Holz umfassen und somit schützen. Darin müssen vor allem auch die Nutzung von Baumaterialien wie Beton und Gips sowie Rohstoffe für die Energiewende wie zum Beispiel Lithium und andere Metalle reglementiert werden. „Unsere Art zu leben, zu arbeiten, zu produzieren und zu konsumieren, verschlingt die Ressourcen des Planeten schneller, als dieser sich erholen kann. Dem muss diese Bundesregierung endlich entschieden entgegentreten. Wir fordern die Regierung deshalb auf, ein verbindliches Ressourcenschutzgesetz auf den Weg zu bringen“, erklärte Myriam Rapior, stellvertretende Vorsitzende des BUND. Das kirchliche Hilfswerk Misereor machte auf den überhöhten Ressourcenverbrauch der Industriestaaten aufmerksam. „Mit dem überproportional hohen Konsum und Ressourcenverbrauch insbesondere in den G7-Staaten leben wir auch auf Kosten der Menschen des Globalen Südens“, erläutert Madeleine Alisa Wörner, Misereor-Expertin für erneuerbare Energien und Energiepolitik. „Denn ein einzelner Mensch in Deutschland hat einen deutlich größeren Ressourcenverbrauch als ein Mensch in Ghana. So liegt der durchschnittliche CO2-Ausstoß pro Kopf in Ghana bei 0,5 Tonnen, während dieser in Deutschland bei 7,7 Tonnen liegt.“ Eine Chance zum Leben innerhalb der planetaren Grenzen sieht sie im Konzept der Suffizienz, also ressourcenschonendem Verhalten, welches sozial gerecht ist. Doch suffizientes Handeln könne nur mit einem umfassenden Wandel hin zu Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen funktionieren, die nicht unsere Lebensgrundlage zerstören. „Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, bessere Rahmenbedingungen für ein suffizientes Leben zu schaffen. Damit wird Deutschland der konkrete Auftrag zum Sparen, Reduzieren und Achten der planetaren Grenzen gegeben.“ (ab)

13.07.2023 |

Weltweit hungern 783 Millionen Menschen – 122 Millionen mehr als 2019

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Oft bleiben die Taschen leer (Foto: CC0/Pixabay)

Im Kampf gegen den Hunger geht es einfach nicht voran: Noch immer leiden auf der Erde bis zu 783 Millionen Menschen an Unterernährung und im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 ist die Zahl um weitere 122 Millionen in die Höhe geschnellt. Das zeigt der Bericht „The State of Food Security and Nutrition in the World 2023”, der am 12. Juli von fünf UN-Organisationen veröffentlicht wurde. Fast jeder zehnte Mensch ist damit von Hunger betroffen und an dieser Kernbotschaft ändert sich seit Jahren nichts – ganz egal, mit welcher Berechnungsmethode der jährlich erscheinende Bericht in der jeweiligen Ausgabe zu welcher exakten Prozentzahl oder leicht anders verlaufenden Kurve gelangt. Ebenso wenig wie an der Prognose, dass es mit dem Ziel, Hunger, Ernährungsunsicherheit und Mangelernährung in all ihren Formen bis zum Jahr 2030 zu beenden, vermutlich nichts wird. Oder wie es die Spitzen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD), von UNICEF, des Welternährungsprogramms (WFP) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im gemeinsamen Vorwort zum Bericht etwas diplomatischer formulieren: „Zweifellos stellt die Verwirklichung des nachhaltigen Entwicklungszieles, den Hunger bis 2030 zu beenden, eine gewaltige Herausforderung dar.“ Die globalen Hungerzahlen blieben zwar 2022 auf hohem Niveau stabil, nachdem sie 2020 inmitten der Pandemie stark und 2021 etwas gebremst angestiegen waren, doch in einigen Regionen, gerade in Afrika, verschärft sich die Lage weiter. „Unsere Agrar- und Ernährungssystem sind nach wie vor sehr anfällig für Schocks und Beeinträchtigungen durch Konflikte, Klimaveränderungen und -extreme sowie wirtschaftlichen Abschwung. Diese Faktoren, in Verbindung mit wachsender Ungleichheit, stellt die Fähigkeit der Ernährungssysteme, nahrhafte, sichere und erschwingliche Nahrung für alle bereitzustellen, auf eine harte Probe“, heißt es im Vorwort weiter. Die Hauptursachen für Ernährungsunsicherheit und Mangelernährung seien unsere „neue Normalität“.

In der Ausgabe 2023 des Berichts wird, wie auch schon in den beiden Jahren zuvor, eine Zahlenspanne angegebenen, um den pandemiebedingten Unsicherheiten bei der Datenerhebung Rechnung zu tragen, die noch bestehe, auch wenn die Meldung der Daten allmählich wieder normal laufe. Es wird geschätzt, dass im Jahr 2022 zwischen 691 und 783 Millionen Menschen von Hunger betroffen waren. Nimmt man die Mitte der Spanne (735 Millionen), so ist die Zahl der unterernährten Menschen gegenüber 613 Millionen in 2019 um 20% gestiegen. Der neusten Datengrundlage zufolge ging der Anteil der unterernährten Menschen zunächst von 12,1% im Jahr 2005 auf 7,7% in 2014 zurück. Dann blieb er auf diesem Niveau, bevor er mit dem Ausbruch von Covid-19 sprunghaft anstieg und im Jahr 2022 dann 9,2% der Weltbevölkerung erreichte – oder 9,8%, wenn man die obere Grenze berücksichtigt. „Dennoch ist der in den letzten zwei Jahren beobachtete Anstieg des Welthungers gebremst und 2022 litten etwa 3,8 Millionen weniger Menschen Hunger als noch 2021. Die wirtschaftliche Erholung von der Pandemie hat dazu beigetragen, aber die bescheidenen Fortschritte wurden ohne Zweifel durch ansteigende Lebensmittel- und Energiepreisen, die durch den Krieg in der Ukraine weiter in die Höhe getrieben werden, unterlaufen“, schreiben die Leiter*innen der UN-Organisationen. Es gebe keinen Grund, sich zurückzulehnen.

Die Zahlen zeigen ein anhaltend regionales Gefälle, wobei in Afrika der Anteil der Hungernden in der Bevölkerung am höchsten ist: Jeder Fünfte (19,7%) ist dort unterernährt – das ist fast das Doppelte des globalen Durchschnitts –, während Asien in absoluten Zahlen führt. Mehr als die Hälfte (54,6%) der 735 Millionen Menschen, die im Jahr 2022 unterernährt waren, lebten in Asien (401,6 Millionen Menschen), gefolgt von Afrika mit 281,6 Millionen bzw. 38,3% der Gesamtzahl sowie Lateinamerika und Karibik mit 43,2 Millionen bzw. 5,9% der Hungernden. Die Zahl der Hungernden in Afrika ist seit 2021 um 11 Millionen und seit dem Ausbruch der Pandemie um mehr als 57 Millionen Menschen gestiegen. Der Anteil der unterernährten Menschen hat ebenfalls zugenommen. Besonders alarmierend ist die Situation in der Subregion Zentralafrika, zu der Länder wie der Tschad und die Demokratische Republik Kongo gehören. Dort war vergangenes Jahr fast ein Drittel der Bevölkerung (29,1%) unterernährt, wenn man die Mitte der Spanne heranzieht. In Ostafrika waren 28,5% der Bevölkerung betroffen. In Asien waren es 8,5% der Bevölkerung, wobei die Zahl in den Unterregionen Südasien (15,6%) und Westasien (10,8%) deutlich höher lag. Lateinamerika und die Karibik als Region verzeichnete Fortschritte, da der Anteil der unterernährten Menschen von 7,0% im Jahr 2021 auf 6,5% in 2022 sank – ein Rückgang um 2,4 Millionen, doch es sind immer noch 7,2 Millionen mehr als 2019. Der Rückgang ist auf Südamerika zurückzuführen, denn in der Karibik stieg der Anteil der Unterernährung von 14,7% in 2021 auf 16,3% im Folgejahr.

Der Bericht enthält nicht nur Schätzungen zur Zahl der chronisch unterernährten Menschen, sondern auch zur moderaten und schweren Ernährungsunsicherheit. Moderate Ernährungsunsicherheit wird definiert als „ein Schweregrad der Ernährungsunsicherheit, bei dem Menschen die Ungewissheit haben, ob sie sich mit Lebensmitteln versorgen können“, was bedeutet, dass sie gezwungen sind, zu bestimmten Zeiten im Jahr aufgrund von Mangel an Geld oder anderen Ressourcen Abstriche bei der Qualität und/oder Quantität der verzehrten Lebensmittel zu machen. Insgesamt hatte fast jeder dritte Mensch (29,6%) auf der Welt im Jahr 2022 keinen ganzjährigen Zugang zu angemessener Nahrung – ein Anstieg um fast 391 Millionen Menschen seit 2019, dem Jahr vor Pandemiebeginn. Von diesen 2,4 Milliarden Menschen, die von moderater und schwerer Ernährungsunsicherheit betroffenen sind, waren 900 Millionen von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, was bedeutet, dass ihnen die Nahrungsmittel ausgingen, sie Hunger litten und im Extremfall einen Tag oder länger nichts zu essen hatten. Dies ist ein Anstieg um 50 Millionen Menschen im Vergleich zu 2019. Auch eine gesunde Ernährung ist für unzählige Menschen unerschwinglich geworden. 2021 konnten sich fast 3,1 Milliarden Menschen keine gesunde Ernährung leisten, 134 Millionen mehr als noch 2019. Die gute Nachricht ist, dass die Zahl im Vergleich zu 2020 um 52 Millionen sank.

Der Bericht zeichnet auch ein düsteres Bild von der Ernährungssituation bei Kindern. Geschätzt 45 Millionen Kinder unter fünf Jahren (6,8% aller Kinder dieser Altersgruppe) litten an Auszehrung (wasting), wodurch sich das Sterberisiko für Kinder extrem erhöht. Darüber hinaus waren 148 Millionen oder 22,3% aller Kinder unter fünf Jahren in ihrem Wachstum und ihrer Entwicklung zurückgeblieben (stunting), was bedeutet, dass sie aufgrund eines chronischen Mangels an essenziellen Nährstoffen in ihrer Ernährung zu klein für ihr Alter sind. Seit dem Jahr 2000 sank der Anteil deutlich – damals war noch jedes dritte Kind betroffen. Übergewicht bei Kindern ist hingegen in vielen Ländern auf dem Vormarsch, was auf Bewegungsmangel und den vermehrten Zugang zu stark verarbeiteten Lebensmitteln zurückzuführen ist. Weltweit waren 5,6 % alle Kinder 2022 übergewichtig und damit 37 Millionen Kinder. „Mangelernährung ist eine große Bedrohung für das Überleben, das Wachstum und die Entwicklung von Kindern“, erklärte Catherine Russell, Exekutivdirektorin von UNICEF. „Das Ausmaß der Ernährungskrise erfordert deutlichere, auf Kinder ausgerichtete Antworten. Dazu gehören der vorrangige Zugang zu nährstoffreichen und erschwinglichen Nahrungsmitteln und grundlegenden Ernährungsdienstleistungen, der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor nährstoffarmen, stark verarbeiteten Lebensmitteln und die Stärkung der Lebensmittel- und Nahrungsversorgungsketten, einschließlich angereicherter und therapeutischer Nahrung für Kinder.“

Die Aussichten für die Zukunft sehen düster aus. Das Ziel, den Hunger bis 2030 zu beenden, rückt in immer weitere Ferne. Laut aktuellen Prognosen werden dann immer noch fast 600 Millionen Menschen von Unterernährung betroffen sein. Das ist eine ähnlich hohe Zahl wie 2015, als das Ziel im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung festgelegt wurde. Von den prognostiziert 600 Millionen Hungernden werden 119 Millionen Menschen aufgrund der Pandemie- und Kriegsfolgen von Hunger betroffen sein, rechnen die Verfasser*innen des Berichts vor. Allein ohne den Krieg gegen die Ukraine würden 23 Millionen Menschen weniger hungern. „Der Hunger nimmt zu, während die Ressourcen, die wir zum Schutz der am stärksten benachteiligten Menschen dringend benötigen, gefährlich knapp werden“, beklagt WFP- Exekutivdirektorin Cindy McCain. „Als humanitäre Helfer*innen stehen wir vor der größten Herausforderung, die wir je erlebt haben. Die Weltgemeinschaft muss schnell, klug und mitfühlend handeln, um den Kurs zu ändern und den Hunger zu besiegen.“ IFAD-Präsident Alvaro Lario ist weiterhin optimistisch, dass eine Welt ohne Hunger möglich ist: „Wir können den Hunger bewältigen, wenn wir dies zu einer globalen Priorität machen“, betont er. „Was uns fehlt, sind die Investitionen und der politische Wille, Lösungen in großem Umfang umzusetzen. Investitionen in Kleinbauern und in ihre Anpassung an den Klimawandel, den Zugang zu Produktionsmitteln und Technologien sowie in den Zugang zu Finanzmitteln für die Gründung kleiner landwirtschaftlicher Betriebe können viel bewirken. Kleinerzeuger sind ein Teil der Lösung. Wenn sie richtig unterstützt werden, können sie mehr Lebensmittel produzieren, ihre Produktion diversifizieren und sowohl Märkte im städtischen als auch im ländlichen Raum beliefern - und so ländliche Gebiete und Städte mit nahrhaften und lokal angebauten Lebensmitteln versorgen.“ (ab)

03.07.2023 |

HLPE fordert Reduzierung der Ungleichheit in Ernährungssystemen

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Bäuerin in Vietnam (Foto: CC0/Pixabay)

Die Welt ist gekennzeichnet durch enorme Ungleichheiten, die gerade in Ernährungssystemen besonders stark ausgeprägt sind: Das bereits alarmierende Ausmaß an Hunger und Unterernährung verschärft sich weiter und globale und nationale Ziele in diesem Bereich drohen in weite Ferne zu rücken, wenn Ungleichheiten nicht endlich verringert werden. Das ist die Kernbotschaft eines Berichts, der vom Hochrangigen Expertengremium für Ernährungssicherheit und Ernährung (HLPE) des Welternährungsausschuss (CFS) verfasst wurde. Das CFS ist das inklusivste Gremium auf UN-Ebene, das sich mit der Welternährung befasst, da ihm neben Vertreter*innen von Regierungen, internationalen und UN-Organisationen auch Akteure aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und dem Privatsektor angehören. Der HLPE liefert dem CFS die wissenschaftliche Expertise und Handlungsempfehlungen und legte 2019 einen vielbeachteten Bericht zu Agrarökologie vor. Der neueste und 18. Themenbericht des Gremiums „Reducing inequalities for food security and nutrition” wurde am 15. Juni auf einer Veranstaltung in Rom vorgestellt. „Er zeigt, dass die Lage im Bereich Ernährungssicherheit und Ernährung von Region zu Region sehr unterschiedlich aussieht, aber keine einzige Region ist frei von jeglichen Formen der Mangelernährung, d.h. jede Region hat zumindest mit einem Aspekt davon zu kämpfen. Aber innerhalb der Regionen gibt es große Unterschiede“, erklärte Bhavani Shankar, Professor für Ernährung und Gesundheit an der Universität Sheffield, der bei der Erstellung des Berichts die Federführung innehatte. „Die Ungleichheiten innerhalb von Ländern sind enorm, in vielen Fällen nehmen sie sogar zu und das ist ein großer Teil des Problems. Und jene Gruppen, die in puncto Ernährungssicherheit am schlechtesten dastehen, sind Frauen, Menschen mit geringerer Bildung, indigene Völker und arme Menschen“, sagte er in Rom. Der Vorsitzende des HLPE, Bernard Lehmann, schreibt im Vorwort des Berichts: „Ungleichheiten bei Ernährungssicherheit und Ernährung bestehen im gesamten Ernährungssystem, vom Hof bis zum Teller. Dazu gehören der ungleiche Zugang zu Ressourcen für die Lebensmittelproduktion und zu Marktchancen für Kleinbauern, ungleiche Machtverhältnisse zwischen großen Lebensmittelkonzernen und Erzeugern sowie der ungleiche Zugang zu angemessenen und nahrhaften Lebensmitteln für Verbraucher.“

Der Bericht umfasst sechs Kapitel, wovon das erste den konzeptionellen Rahmen liefert. Die Autor*innen erklären, warum der Kampf gegen Ungleichheit wichtig ist. Ungleichheit bedrohe Fortschritte im Bereich Ernährungssicherheit und Ernährung. Zudem schreiben globale Ziele wie die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) sowie Menschenrechtspakte die Beseitigung von Ungleichheit vor. Darüber hinaus gebiete es der natürliche Sinn für menschliche Gerechtigkeit und Fairness, der auch der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zugrunde liegt. Der Bericht definiert Ungleichheiten in Ernährungssystemen „als die beobachteten Unterschiede in der Ernährungssituation oder bei damit verbundenen Faktoren in Ernährungssystemen (z.B. dem Zugang zu Ressourcen für die Lebensmittelproduktion) zwischen Einzelpersonen und Gruppen (aufgeschlüsselt nach sozialer, wirtschaftlicher und geografischer Lage)“. Ein Diagramm veranschaulicht den konzeptionellen Rahmen und zeigt, wie die Ernährungssicherheit und Ernährung verbessert werden können, indem Ungleichheiten in Ernährungssystemen und in anderen damit verbundenen Systemen wie Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur, die alle für die Ernährungssicherheit relevant sind, angegangen werden. Ein nachhaltiger Wandel sei nur möglich ist, wenn die systemischen Treiber und Grundursachen von Ungleichheit verstanden und bekämpft würden.

Kapitel 2 beschreibt Muster und Trends bezüglich der Ungleichheit. „Zwar betreffen Ungleichheiten bei der Ernährungssicherheit vor allem die Bevölkerung in Afrika, Südasien und der Karibik, doch sie bestehen überall“, erklären die Autor*innen. Trotz Erfolgen beim Kampf gegen die Unterernährung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen untergräbt der weltweite Anstieg von Übergewicht und Fettleibigkeit bei Erwachsenen und Kindern bisherige Fortschritte. Zudem hat sich der Hunger in den meisten Weltregionen seit 2015 verschlimmert. Blickt man auf die Regionen, in die die Welt für den Welthungerbericht (SOFI) unterteilt wird, ist in Afrika der Anteil der Unterernährten mit 37,7% in Zentralafrika am höchsten, wozu Länder wie der Tschad und die Demokratische Republik Kongo gehören. In der Region „Lateinamerika und Karibik“ ist die Karibik besonders stark betroffen und 30,5% der Menschen sind unterernährt, während in Asien der Anteil mit 21% in Südasien und in „Nordamerika und Europa“ in Südeuropa mit 2,8% am höchsten ist. Bei der Ernährungslage gibt es auch geschlechtsspezifische Unterschiede und die Kluft wird hier immer breiter. Weltweit sind zahlenmäßig mehr Frauen als Männer von Hunger betroffen und der Schweregrad der Ernährungsunsicherheit ist bei Frauen höher. Zudem sind Menschen mit Behinderungen stärker bedroht, da sie auch häufiger in Armut leben. Studien zeigen dem HLPE zufolge, dass indigene Erwachsene in Australien ein fünf- bis siebenmal höheres Risiko haben, von Ernährungsunsicherheit betroffen zu sein als ihre nicht-indigenen Altersgenossen. In den USA ist der Anteil schwarzer, nicht-hispanischer Haushalte, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, mit 22,7% höher als bei weißen, nicht-hispanischen Haushalten mit 8,7%. Die Autor*innen stellen fest, dass mehr qualitative und besser nach Geschlecht, Standort, wirtschaftlichem Status, ethnischer Zugehörigkeit und anderen Faktoren aufgeschlüsselte Daten erforderlich sind, um Ungleichheiten in Ernährungssystemen systematisch zu quantifizieren und nachzuverfolgen.

Kapitel 3 untersucht die unmittelbaren Treiber von Ungleichheiten in Ernährungssystemen und verwandten Systemen. Die Autor*innen fokussieren sich auf drei Bereiche im Ernährungssystem: Ungleichheiten bei Ressourcen für die Lebensmittelproduktion, in Lebensmittelversorgungsketten sowie im Lebensmittelumfeld und beim Verhalten der Verbraucher*innen. Erstens bestehen nach wie vor große Ungleichheiten beim Zugang zu Ressourcen für den Anbau von Lebensmitteln. Ein klassisches Beispiel dafür ist die große und zunehmende Ungleichheit beim Landbesitz. Rund um den Globus und in den meisten Regionen der Welt mit Ausnahme Afrikas hat die Ungleichheit beim Landbesitz, gemessen am Gini-Koeffizienten, seit 1975 zugenommen. Zweitens ist in den Versorgungsketten der ungleiche Zugang zu Finanzdienstleistungen eine Ursache von Ungleichheit: Für kleine Lebensmittelproduzenten und -unternehmen gibt es seit langem erhebliche Hürden bei der Inanspruchnahme von Krediten, Versicherungen und anderen Finanzprodukten, oder sie haben keinen Zugang zu Informationen und Technologien. Außerdem sind sie nur begrenzt in der Lage, sich an modernen Wertschöpfungsketten und Märkten, an Lagerung, Verarbeitung und Vertrieb sowie am internationalen Handel zu beteiligen und davon zu profitieren. „Große Händler, Verarbeiter und Einzelhändler wollen die Transaktionskosten für den Kauf kleinerer Mengen von mehreren Kleinbauern nicht tragen. Daher legen sie oft Mindestmengen und/oder Qualitätsstandards fest, die Kleinerzeuger kaum erfüllen können, vor allem wenn die Modernisierung und die Investition in Betriebsmittel eine Finanzierung und bessere Informationen erfordern“, erklären die Autor*innen das Dilemma. Drittens sind im Lebensmittelumfeld vor allem einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Minderheiten von Ungleichheiten und damit verstärkt von Ernährungsunsicherheit betroffen. Unmittelbar befeuert werden Ungleichheiten in Ernährungssystemen auch durch Probleme in anderen Systemen, wie der fehlende Zugang zum Gesundheit, Wasser und Bildung.

Kapitel 4 sucht nach den systemischen Treiber und tieferen Ursachen für Ernährungssicherheit und -ungleichheit. Viele Faktoren, die sich auf Ernährungssysteme auswirken, haben laut HLPE ihren Ursprung in diesen Systemen selbst. So schaden Klimawandel und Umweltzerstörung etwa den in Ernährungssektor arbeitenden Menschen und stellen eine Bedrohung für ihre Ernährungssicherheit und Ernährung dar, gerade dort, wo Menschen und Orte am stärksten von Veränderungen betroffen sind. Zugleich sind Ernährungssysteme Haupttreiber des Klimawandels, ebenso wie für den Verlust der biologischen Vielfalt und die Übernutzung von Wasser und Böden. Weitere Ursachen sind (markt)wirtschaftliche Faktoren, die das globale Ernährungssystem grundlegend verändert haben, indem sie Marktdynamiken, Finanzströme und Handelsmuster so gestalteten, dass Macht- und Eigentumsverhältnisse gefestigt wurden. Hierbei steche die Gestaltung und das Ausmaß des internationalen Handels sowie der Einfluss einer kleinen Anzahl privater Akteure hervor, die zunehmend die Kontrolle über die Marktgestaltung innehätten. „Dies hat die Ernährungsgewohnheiten auf komplexe Weise verändert und die Handlungsmacht der meisten Beschäftigten im Ernährungssystem eingeschränkt. Auch wenn es gewisse ernährungsbedingte Vorteile gibt, besteht die Sorge, dass der Übergang zu einer westlichen, Übergewicht befördernden Ernährungsweise die Ernährungslage verschlimmert, zunächst die Wohlhabenderen betrifft, aber dann allmählich zu einem Problem für die am stärksten marginalisierten oder sozioökonomisch benachteiligten Teile der Gesellschaft wird.“ Der Bericht benennt aber auch politische und institutionelle Faktoren wie Gewalt und bewaffnete Konflikte sowie Politik und Governance (z. B. Landpolitik, Agrarpolitik oder Arbeitsmarktvorschriften). Zudem erzeugten und verstärkten soziokulturelle Faktoren wie kulturelle Normen oder geschlechtsspezifische Gewalt bestehende Ungleichheiten.

Kapitel 5 benennt Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungssicherheit und stellt Bereiche vor, denen Priorität einzuräumen ist, da sie das größte Potenzial zur Verringerung von Ungleichheiten aufweisen. Die Maßnahmen werden in vier Hauptkategorien eingeteilt: Lebensmittelproduktion, Versorgungsketten, Lebensmittelumfeld und -konsum sowie Rahmenbedingungen, allgemeiner Kontext und Governance. Bei der Lebensmittelproduktion nennt er Maßnahmen zur Schaffung eines gleichberechtigteren Zugangs zu Land, Wäldern, Vieh und Fischerei, die Anwendung agrarökologischer Prinzipien, die Gründung inklusiver Erzeugerorganisationen und mehr Geld für eine gerechtigkeitsorientierte öffentliche Forschung im Bereich Agrar- und Ernährungssysteme sowie andere öffentliche Investitionen im ländlichen Raum. Letzteres umfasst etwa die Beachtung von Aspekten der Gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit bei der Strategieplanung, denn dies kann z.B. bewirken, dass auf Nutzpflanzen oder Tierarten gesetzt wird, die für die Ernährungssicherheit der Haushalte, für marginalisierte Gruppen und Gegenden oder für schlechte Böden ohne künstliche Bewässerung besonders geeignet sind. Was die Lieferketten anbelangt, so priorisiert der HLPE inklusive Ansätze für die Wertschöpfungskette, die Entwicklung von Arbeitsschutzmaßnahmen, -strategien und -programmen für Beschäftigte im Ernährungssystem, die Berücksichtigung territorialer Ansätze bei der Vorhaben zu Ernährungssystemen und Regionalentwicklung, Investitionen in eine gerechtigkeitsorientierte Infrastruktur für Lagerung, Verarbeitung und Vertrieb von Lebensmitteln sowie Investitionen in verbesserte Informationssysteme, die digitale Technologien nutzen. Mit Blick auf Umgebung und Konsum von Lebensmitteln sind die wichtigsten Aktionsbereiche die Planung und Steuerung des Lebensmittelumfelds, sodass alle Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung Zugang zu günstigen, nahrhaften, sicheren und kulturell angemessenen Lebensmitteln haben, die Einbeziehung von Erkenntnissen über menschliche Verhaltensmuster bei der Ernährung in die Gestaltung von Politiken und Programmen sowie die Stärkung sozialer Sicherungssysteme.

Das sechste Kapitel enthält Empfehlungen für eine grundlegende Umgestaltung der Ernährungssysteme. Es gibt zehn allgemeine Empfehlungen, die in vier Gruppen unterteilt sind, aber die 10 Hauptempfehlungen sind unterfüttert mit vielen Unterpunkten, d.h. genauere und präzisere Empfehlungen, erläutert Bhavani Shankar bei der Präsentation, die als Video online abrufbar ist. Cluster A konzentriert sich auf die Beseitigung von Ungleichheiten in Ernährungssysteme. Die erste Hauptempfehlung lautet daher, dass „Staaten, zwischenstaatliche Organisationen, der Privatsektor und die Zivilgesellschaft sektorübergreifend zusammenarbeiten sollten, um einen gerechteren Zugang zu Land, Wäldern, Wasserressourcen und anderen Ressourcen für die Lebensmittelproduktion zu gewährleisten, indem sie rechtebasierte Ansätze anwenden“. Als Unterpunkt empfehlen die Autor*innen, die Land- und Ressourcenrechte von Frauen, Bauern, indigenen Völkern und anderen marginalisierten Gruppen zu stärken, einschließlich der rechtlichen Anerkennung und des Erbrechts. Cluster B befasst sich mit Ungleichheiten in anderen Systemen. Eine Empfehlung lautet, dass Staaten den allgemeinen Zugang zu Dienstleistungen und Ressourcen sicherstellen sollten, die sich direkt auf die Ernährungssicherheit und Ernährung auswirken. Präzisiert wird dies damit, dass Staaten den universellen Zugang zu allen mit Ernährung in Zusammenhang stehenden Dienstleistungen gewährleisten müssen, darunter zu medizinischer Grundversorgung, Impfungen, Ernährungsbildung, sanitären Einrichtungen und sauberem Trinkwasser, um nur einige Beispiele zu nennen. Cluster C enthält Empfehlungen zur Bekämpfung sozialer und politischer Ursachen von Ungleichheit. Cluster D liefert Vorschläge zur Stärkung von Daten- und Wissenssystemen, die notwendig sind, um ein besseres Verständnis für Gerechtigkeitsaspekte in allen Bereichen zu bekommen, die für Ernährungssicherheit und Ernährung von Relevanz sind. Alle Empfehlungen mit weiteren Ausführungen und Bespielen sind im englischen 200-Seiten-Bericht oder der etwas knackigeren Zusammenfassung zu finden. (ab)

02.06.2023 |

Keine Grüne Revolution für Afrika: Studie belegt Scheitern von AGRA

Ghana
Bäuerin in Ghana (Foto: CC0)

Die Agrarinitiative „Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika“ (AGRA) hat nicht nur ihre Ziele verfehlt, sondern ihre Maßnahmen haben auch negative Folgen für die Menschen und die Umwelt in den Projektländern. Obwohl zivilgesellschaftliche Organisationen schon lange vor den negativen Auswirkungen des von AGRA verfolgten Entwicklungsansatzes warnen, förderte die Bundesregierung die Allianz weiter mit mehreren Millionen Euro. Das zeigt ein am 1. Juni von Brot für die Welt, FIAN Deutschland, Forum Umwelt und Entwicklung, INKOTA-netzwerk und der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebener Bericht. Mit mehr als zwei Jahren Verzug hatten das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) Ende 2022 eine Zwischenevaluierung der von ihnen finanzierten AGRA-Projekte in Burkina Faso und Ghana veröffentlicht. Dieses Dokument werteten die Organisationen nun aus. AGRA wurde 2006 von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung und der Rockefeller-Stiftung geschaffen. Mit kommerziellem Hochertragssaatgut, Pestiziden und synthetischen Düngemitteln sollten die Einkommen von Millionen kleinbäuerlicher Haushalte verdoppelt und sie von Hunger und Armut befreit werden. Doch stattdessen werden die Bauern durch AGRA in teure Abhängigkeiten von externen Inputs gebracht, bemängeln die Organisationen.

Die Zwischenevaluierung wurde für die AGRA-Projekte in Burkina Faso und Ghana von MDF West Africa, einer Consulting-Agentur in Ghana, durchgeführt. Sie befasst sich mit der ersten Projektphase 2017-2022, in der das BMZ und die KfW in Burkina Faso und Ghana insgesamt vier AGRA-Projekte mit circa 10 Millionen Euro unterstützen. In den Projekten wurde der Einsatz von teuren industriellen Betriebsmitteln, wie synthetischem Dünger, Pestiziden und industriellem Saatgut gefördert. „Ohne die kontinuierliche externe Weiterfinanzierung dieser Substanzen können sich die Bäuerinnen und Bauern diese nach der Beendigung der Projekte nicht mehr leisten“, sagt Jan Urhahn, Agrarexperte der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Denn das von AGRA aufgebaute System des Zugangs zu und der Verteilung von externen industriellen Betriebsmitteln durch Berater*innen auf Dorfebene (village-based advisors - VBAs) ist nach Projektende massiv gefährdet. „AGRA hat mit dem Einsatz von VBAs ein Abhängigkeitssystem aufgebaut, das damit beginnt, dass sich VBAs auf die Versorgung mit externen industriellen Betriebsmitteln durch das Projekt verlassen. AGRA-Projekte begünstigen damit, dass Bäuerinnen und Bauern nicht nur in Abhängigkeit zu den von Projektseite empfohlenen Betriebsmitteln, sondern auch in eine Abhängigkeit zu den Unternehmen gebracht werden, die diese Betriebsmittel herstellen und vertreiben“, schreiben die NGOs in ihrer Bewertung. Bricht die Versorgung durch AGRA und deren Finanziers weg, gelangen die Bäuer*innen nicht mehr an die Betriebsmittel, von denen sie im Rahmen der Projekte abhängig gemacht wurden. „Dies widerspricht der Behauptung von AGRA, kleinbäuerliche Landwirtschaft könne zu einem erfolgreichen ‚Business‘ gemacht werden, das sich von selbst trägt“, sagt Urhahn. Auch angesichts der infolge der COVID-19-Pandemie und des Angriffskriegs auf die Ukraine seit zwei Jahren stark gestiegenen Preise für industrielle Betriebsmittel sei der AGRA-Ansatz wenig ökonomisch nachhaltig.

Schon frühere, AGRA-eigene Evaluierungen hatten zudem das Problem der Überschuldung durch Kreditaufnahme für die von AGRA beworbenen externen industriellen Betriebsmittel belegt. Auch die Zwischenevaluierung stellt fest, dass die Überschuldung von Bäuer*innen ein weit verbreitetes Phänomen gerade in Ghana ist. Dort sollen 41% der Reisbäuer*innen sowie 33% der Cassavabäuer*innen große Probleme haben, ihre Kredite zurückzuzahlen. MDF stellt diese Überschuldung jedoch als allgemeines Problem ohne Bezug zu AGRA dar. Außerdem wurde bei der Befragung der überschaubaren Anzahl an Bäuer*innen gar nicht nach einem möglichen Zusammenhang zwischen AGRA-Projekten und der Überschuldung gefragt, wundern sich die NGOs. Den Landwirt*innen wird zudem in Schulungen die Verwendung des an die Marktnachfrage angepassten Saatguts und synthetischer Düngemittel nahegelegt, während organischer Dünger oder lokal angepasste traditionelle Saatgutsorten keine Rolle spielen. Somit wird ihre Wahlfreiheit stark eingeschränkt. Die Evaluation hebt als positiv hervor, dass Saatgutunternehmen durch die Projekte in Gebiete vordringen konnten, in denen sie zuvor nicht tätig waren. „Davon profitieren einseitig Saatgut- und andere Betriebsmittelkonzerne, weil neue Absatzmärkte für ihre Produkte geschaffen werden“, kritisieren die NGOs. Das wird flankiert durch Lobbyarbeit von AGRA in den Projektländern, mit dem Ziel, nationale Gesetze oder Rahmenwerke für die Zulassung und Vermarktung von synthetischen Düngemitteln und industriellem Saatgut zu vereinfachen. Die Möglichkeit der Bäuer*innen, lokales Saatgut zu vermehren und ohne Kosten wiederzuverwenden, wird zunehmend eingeschränkt.

„Obwohl die wirtschaftliche Ausbeutung von Kindern eine nicht akzeptable Menschenrechtsverletzung ist, wurde sie bei der Evaluierung in den AGRA-Projekten festgestellt. Das ist nicht hinnehmbar“, sagt Roman Herre, Agrarreferent bei FIAN Deutschland. Beispielsweise wurde berichtet, dass junge Kinder mit aufs Feld gebracht wurden, um fehlende Arbeitskräfte zu ersetzen. Oft schälten Kleinkinder Cassava für die Weiterverarbeitung zu Stärke und „diese Praxis erschien recht systematisch und nicht zufällig“, heißt es in der Evaluation. „Vor allem vor dem Hintergrund, dass sich das BMZ für die Beendigung von Kinderarbeit und die Verwirklichung entsprechender UN-Konventionen einsetzt. Dieser Umstand muss umgehend angegangen werden“, fordert Herre. Die Organisationen kritisieren, dass die Berücksichtigung und Umsetzung zentraler Menschenrechte – wie das Recht auf Nahrung oder der Schutz von Kindern vor wirtschaftlicher Ausbeutung – in der Evaluation nicht systematisch überprüft wird. Auch das für die KfW verbindliche Menschenrechtskonzept des BMZ wird nicht einbezogen. „Während die Zwischenevaluierung an einigen Stellen versichert, dass die Projekte keine wesentlichen sozialen Verwerfungen hervorriefen, werden gleichzeitig an anderen Stellen Fälle von absichtlicher und systematischer Kinderarbeit bestätigt“, heißt es in der Auswertung. MDF schreibt: „AGRA hofft, dass mit steigenden landwirtschaftlichen Einkommen solche Praktiken verschwinden und die Kinder stattdessen zur Schule gehen werden. Wir kommen zu dem Schluss, dass die Projektträger zwar keine Schuld an einigen unglücklichen Gegebenheiten in den Projektgebieten tragen, dass aber auch keine großen Anstrengungen unternommen wurden, um diese zu beheben.“

Die Evaluierung zeigt zudem, dass Bäuer*innen aus Burkina Faso Umweltschäden durch den Einsatz von Pestiziden in AGRA-Projekten feststellen. „Die Umweltschäden werden in der Tat immer sichtbarer. Die Landwirte nennen Bodenerosion, die Verschlechterung der Bodenfruchtbarkeit, die Notwendigkeit, immer mehr Düngemittel zu verwenden, um produktiv zu sein, sowie das Verschwinden von bisher verbreiteten Insekten und Bodenwürmern und das vermehrte Auftreten von Superunkräutern. Als mögliche Ursachen nannten die Landwirte den Raubbau am Boden und den Einsatz falscher Herbizide und Pestizide“, schreibt MDF. In AGRA-Projekten in Ghana kommen zudem in der EU verbotene Pestizide, wie die Wirkstoffe Propanil und Permethrin unrechtmäßig zum Einsatz. Dies verstößt gegen den „Referenzrahmen für Entwicklungspartnerschaften im Agrar- und Ernährungssektor“ des BMZ und gegen die Sozial- und Umweltstandards der Weltbank, betonen die NGOs. Beide Standards sind für den Einsatz in KfW-Projekten, die von der Bundesregierung finanziert werden, verpflichtend. Zwar lobt die Zwischenevaluierung, dass es durch AGRA-Interventionen zu einer Steigerung von Erträgen und Einkommen und zu einer Verbesserung der Ernährungssicherheit gekommen sei. Dafür fehlen jedoch wissenschaftlich fundierte Daten, was unter anderem auf fehlende Basisdatenerhebungen vor dem Beginn der Projekte, oder auf kleine, nicht repräsentative Erhebungen und die kurze Zeitspanne der Evaluierung zurückzuführen ist. Selbst die Evaluierung kommt an einer Stelle zu dem Ergebnis, dass die „Daten nicht zuverlässig und nützlich“ seien.

Die NGOs melden sich nicht zum ersten Mal zu Wort. Die Ergebnisse der Studie „Falsche Versprechen“ aus dem Jahr 2020 sowie die Analyse der AGRA-eigenen Evaluierungen aus dem Jahr 2021 (Weltagrarbericht berichtete zu beidem) haben bereits dargestellt, dass die AGRA-Ziele in den 13 AGRA-Schwerpunktländern, zu denen Burkina Faso und Ghana gehören, nicht erreicht wurden. Ursprünglich sollten die Ergebnisse der Zwischenevaluierung zur ersten Projektphase als Basis für die Entscheidung dienen, ob das BMZ in einer zweiten Projektphase AGRA weiter finanziert. Doch bereits im Jahr 2020 stellte das BMZ weitere 15 Millionen Euro für die Jahre 2022 bis 2025 bereit, vor allem für Projekte in Burkina Faso und Nigeria. „Die Entscheidung des BMZ, AGRA weiterhin zu fördern und die Fördersumme anzuheben, wurde ohne eine empirisch belastbare Grundlage und trotz substanzieller und fundierter Kritik seitens der Zivilgesellschaft getroffen“, kritisieren die NGOs. Zwar hatte Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze bereits im Frühjahr 2022 angekündigt, die AGRA-Kooperation der Bundesregierung infrage zu stellen, aber konsequent wäre es, die Förderung von AGRA vorzeitig einzustellen, fordern die Organisation. „Mit den Ergebnissen der eigenen Evaluierung bleibt als einzig logische Konsequenz der direkte Ausstieg aus AGRA“, fordert Silke Bollmohr, Landwirtschaftsexpertin beim INKOTA-netzwerk. Statt der Weiterfinanzierung von AGRA solle das BMZ das Recht auf Nahrung und die Agrarökologie zum Kompass deutscher Entwicklungspolitik machen und alle Projekte mit klaren Maßnahmen und messbaren Zielen unterlegen. (ab)

04.05.2023 |

Natürliche Ressourcen: Deutschland lebt schon ab 4. Mai auf Pump

Tagebau
Der deutsche Ressourcenhunger überlastet die Erde (Foto: CC0)

Wenn alle Länder so leben und wirtschaften würden wie Deutschland, wären drei Erden nötig, um diesen Konsum zu decken. 2023 haben die Deutschen die für dieses Jahr nachhaltig nutzbaren Ressourcen und ökologisch verkraftbaren CO2-Emissionen schon am 4. Mai voll beansprucht und leben den Rest des Jahres wieder über das Budget hinaus. Das zeigen aktuelle Berechnungen der internationalen Nachhaltigkeitsorganisation „Global Footprint Network“. Diese berechnet alljährlich sowohl nationale Overshoot Days als auch den globalen Erdüberlastungstag, der 2022 auf den 28. Juli fiel. Die Berechnungen basieren auf den „National Footprint and Biocapacity Accounts“ (NFA), die sich wiederum auf UN-Datensätze stützen. Es werden zwei Größen gegenübergestellt: einerseits die biologische Kapazität der Erde zum Aufbau von Ressourcen sowie zur Aufnahme von Müll und Emissionen und andererseits der ökologische Fußabdruck – der Bedarf an Acker-, Weide- und Bauflächen, die Entnahme von Holz, Fasern oder Fisch, aber auch der CO2-Ausstoß und die Müllproduktion. Deutsche Nichtregierungsorganisationen fordern angesichts des frühen Overshoot Day eine Wende in zahlreichen Politikbereichen und kritisieren den hohen Ressourcenverbrauch. „Es ist eine absolute Ungerechtigkeit: Ab heute leben wir auf Kosten der Menschen im Globalen Süden und unserer Kinder! Während die Folgen unseres Konsums und Wirtschaftens vor allem die Menschen im Globalen Süden und nachfolgende Generationen treffen, verpasst die deutsche Bundesregierung die Rohstoffwende“, bemängelt etwa Julius Neu, Referent für Rohstoffpolitik, Wirtschaft und Menschenrechte beim entwicklungspolitischen INKOTA-netzwerk.

INKOTA fordert von der Bundesregierung mehr Einsatz für die Einleitung einer Rohstoffwende und die absolute Senkung des metallischen Rohstoffverbrauchs. Nur durch die Verringerung des Verbrauchs auf ein global gerechtes Maß könne es gelingen, Menschenrechtsverletzungen, die weitere Umweltzerstörung und eine Verschärfung der Klimakrise durch den Rohstoffabbau zu verhindern. „Die Bundesregierung muss in der deutschen Kreislaufwirtschaftsstrategie und dem kommenden EU-Rohstoffgesetz die Senkung des Rohstoffverbrauchs verbindlich verankern“, betont Julius Neu. Die EU verhandelt derzeit über ein EU-Rohstoffgesetz, den EU Critical Raw Materials Act. Er soll für europäische Unternehmen den Zugang zu kritischen Rohstoffen, die für sogenannte grüne und digitale Zukunftstechnologien benötigt werden, sicherstellen. Mitte März veröffentlichte die EU-Kommission ihren Entwurf für das Gesetz. INKOTA will erreichen, dass nicht nur die Interessen von Unternehmen im Fokus stehen, sondern auch Menschenrechte und Umweltschutz. „Der europäische Green Deal darf nicht auf Kosten des Globalen Südens gehen. Es ist in unserer Verantwortung, nicht nur auf uns zu schauen, sondern auch die Stimmen der Menschen zu hören, auf deren Kosten wir ab dem 4. Mai leben“, unterstreicht Neu. Die Bundesregierung müsse auf die gesetzliche Verankerung von menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten im EU-Rohstoffgesetz bestehen. „Unternehmen, die die Rohstoffe nutzen, müssen bis zur Mine in die Verantwortung genommen werden und dürfen diese nicht an Industrieinitiativen auslagern“, so INKOTA.

Auch die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch fordert eine möglichst umfangreiche Verringerung des Ressourcenverbrauchs sowohl bei nachwachsenden als auch nicht nachwachsenden Rohstoffen. Dafür sei eine ganzheitliche Kreislaufwirtschaft ein wichtiger Hebel. „Dies bedeutet im Kern: 1. Den benötigten Einsatz von Energie und Rohstoffen bei der Herstellung senken 2. Produkte langlebig und länger nutzbar machen, zum Beispiel durch reparaturfähiges und haltbares Produktdesign und ein effektives Recht auf Reparatur, welches die Wiederverwendung attraktiver macht als den Neukauf. Und 3. die Wiedergewinnung möglichst vieler Materialien über hochwertiges Recycling“, schreibt die NGO in ihrer Pressemitteilung zum deutschen Overshoot Day.„Bundesregierung und EU müssen ihre Politik wirksam auf eine Kreislaufwirtschaft ausrichten“, sagt Luisa Denter, Referentin für Ressourcenpolitik und zirkuläres Wirtschaften bei Germanwatch. Es gebe aktuell viele Ansätze, wie eine Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie in Deutschland oder eine Ökodesignrichtlinie und ein Recht auf Reparatur in der EU. „Aber wir beobachten oft, dass zunächst ambitionierte Vorhaben am Ende nur die kurzfristigen Potentiale abgrasen und die größeren, wirksamsten Hebel liegen lassen. Das muss sich ändern“, fordert Denter.

Germanwatch nennt als wichtigen Hebel auch die Verringerung der Treibhausgasemissionen im Flugverkehr, da Fliegen die mit Abstand klimaschädlichste Reiseart sei, da die Emissionen pro Fahrgast und Kilometer viel größer als beim Bahnfahren sind. Zudem seien die Emissionen im Flugverkehr rund dreimal so klimaschädlich wie die gleiche Emissionsmenge am Boden, da in großer Höhe Effekte wie Kondensstreifen den Schaden vervielfachen. Die Fluggesellschaften seien auch noch deutlich weiter von klimaverträglichen Antriebsarten entfernt als jede andere Verkehrsart. Insgesamt seien Bahn- und Busreisen im Inland pro Kilometer etwa sechsmal klimafreundlicher als Flugreisen. Es besteht zudem keine Notwendigkeit für Flüge auf Strecken unter 500 Kilometern, die auch zügig per Bahn bewältigt werden können. „Die Bahn sollte auch auf grenzüberschreitenden Strecken in Europa das bevorzugte Reisemittel werden – das würde Reisen deutlich energieeffizienter und klimafreundlicher machen“, sagt Jacob Rohm, Referent für klimafreundliche Mobilität bei Germanwatch. „Damit der Wandel vom Flug zur Schiene gelingt, brauchen wir einen Ausbau der Direktverbindungen zwischen europäischen Metropolen am Tag und in der Nacht sowie einfachere internationale Ticketbuchungen“, erklärt Rohm. Zudem müssten im Flugverkehr alle klimaschädlichen Subventionen, wie das Fehlen einer Kerosinsteuer, abgebaut werden.

Deutschland liegt mit seinem Pro-Kopf-Verbrauch und seinen Emissionen im obersten Viertel aller Länder. Katar und Luxemburg haben ihre nationalen Erdüberlastungstage bereits Mitte Februar erreicht. Kanada, die USA, die Vereinigten Arabischen Emirate und Australien waren schon im März soweit und auch die skandinavischen Länder und Österreich hatten ihr Budget schon vor Deutschland überzogen. Länder wie Ecuador und Jamaica hingegen kommen bis in den Dezember hinein mit den in demselben Jahr nachhaltig regenerierbaren Ressourcen aus. Die deutschen Organisationen betonen, dass es bereits einige positive Ansätze hierzulande gebe, um den Overshoot im Kalender weiter nach hinten zu schieben. Aber wenn wir die Anstrengungen nicht massiv beschleunigten, werde es noch Jahrzehnte dauern, um zu einer nachhaltigen Lebensweise zu finden – mit den schwerwiegendsten Folgen dieser jahrzehntelangen Übernutzung. „Jede:r kann den eigenen ökologischen Fußabdruck über die Art zu konsumieren, mobil zu sein oder zu wohnen verkleinern, aber die Wende zur Nachhaltigkeit gelingt nur über die Veränderung der Rahmenbedingungen für alle“, betont Germanwatch. (ab)

28.04.2023 |

Insekten selbst in Naturschutzgebieten durch Pestizide bedroht

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Insekten sind pestizidbelastet (Foto: CC0)

Die Insektenvielfalt in Deutschland schwindet und die bedrohten Bestäuber sind auch in Naturschutzgebieten nicht sicher. Das hatte schon 2017 eine vielbeachtete Studie des Entomologischen Vereins Krefelds (EVK) ans Licht gebracht, die für großes Medienecho sorgte und den akuten Handlungsbedarf aufzeigte. Das daraufhin aus der Taufe gehobene Forschungsprojekt DINA untersuchte in den letzten 4 Jahren, wie es um die Vielfalt von Fluginsekten in 21 Naturschutzgebieten bundesweit bestellt ist. Das Verbundsvorhaben, an dem unter Federführung des Naturschutzbund Deutschland (NABU) insgesamt 8 Hochschulen und Forschungseinrichtungen mitwirkten, stellte nun am 26. April in Berlin die zentralen Ergebnisse vor. Demnach hat sich die Lage der Insekten hierzulande in den letzten Jahren nicht verbessert. Aktuell sei „keine Erholung der Biomassen für die Jahre 2020 und 2021 feststellbar und der Trend zu einem niedrigen Stand kann deutschlandweit bestätigt werden“, verkündete Thomas Hörren vom EVK, einem der Projektpartner. Zudem wirkten sich konventionell bewirtschaftete Ackerflächen nachteilig auf das Vorkommen gefährdeter Pflanzenarten in benachbarten, geschützten Lebensräumen aus.

Das Forschungsprojekt DINA (Diversity of Insects in Nature protected Areas) hatte sich mit der Frage befasst, warum die Insektenvielfalt in Deutschland abnimmt und was dagegen unternommen werden kann. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hatte das Vorhaben seit Mai 2019 mit einer Gesamtsumme von 4,6 Millionen Euro gefördert. Die Forscher*innen hatten im gesamten Land in 21 Naturschutzgebieten und Flächen des Schutzgebietsnetzes Natura 2000 die Insektenvielfalt und deren Belastung aus den umliegenden landwirtschaftlich genutzten Flächen erfasst. Die Wissenschaftler nutzen sowohl die standardisierte Methode des Entomologischen Vereins Krefeld zur Erfassung von Fluginsekten (sog. Malaise-Fallen) als auch neue Verfahren zur Bestimmung von Nahrungspflanzen der Insekten mittels DNA-Metabarcoding sowie Pestizidnachweise (Rückstandsanalysen) aus den Insektenfallen. „Die Betroffenheit war groß, als vor sechs Jahren das Ausmaß des dramatischen Rückgangs der Insektenvielfalt öffentlich wurde. Doch es fehlte an Daten, um den Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten und in einen positiven Trend umzukehren“, sagte Prof. Dr. Gerlind Lehmann, DINA-Projektleiterin beim NABU. Mit DINA sei es nun gelungen, die bislang umfangreichste Datenbasis zur Anzahl und Vielfalt fliegender Insektenarten in den ausgewählten Schutzgebieten zu schaffen. „Wesentliche Treiber des Biodiversitätsverlustes wurden untersucht – etwa negative Umwelteinflüsse durch den Pestizideinsatz oder die Zerstörung von Lebensräumen“, so Dr. Lehmann.

Die Suche nach der Ursache, warum die Insektenvielfalt auch in Schutzgebieten schwindet, führte zu dem Ergebnis, dass die Gebiete von konventionell bewirtschafteten Ackerflächen umgeben sind oder sie gar beinhalten. „Eine bedeutende Zahl von Ackerflächen befindet sich innerhalb und in unmittelbarer Nachbarschaft von Naturschutz- und Natura 2000-Gebieten. Bisher werden diese Ackerflächen in der Regel konventionell bewirtschaftet“, heißt es in dem aktuellen DINA Policy Brief. „Auf einer Länge von mehr als 11.000 km grenzen Naturschutzgebiete direkt an Ackerflächen an“, sagte Lisa Eichler vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR). „Bei den EU-rechtlich geschützten „Fauna-Flora-Habitat (FFH)“-Gebieten sind es sogar 21.100 km – eine Strecke länger als die Luftlinie zwischen Nord- und Südpol.“ Die Forscher*innen stellten fest, dass sich angrenzende Ackerflächen nachteilig auf das Vorkommen gefährdeter Arten im Randbereich der geschützten Lebensräume auswirken. Denn dort kommen in der Regel Pestizide zum Einsatz.Pestizide wurden auf Insekten in allen untersuchten Schutzgebieten nachgewiesen, wobei die Insekten in der Agrarlandschaft in einem Radius von 2000 m kontaminiert wurden. „Auch in Naturschutzgebieten werden Insekten mit Pestizidmischungen belastet“, erklärt Dr. Carsten Brühl von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern Landau „Kontaminiert werden sie vor allem außerhalb der Schutzgebietsflächen aufgrund ihres Aktivitätsradius. So haben Ackerflächen, die an Schutzgebiete angrenzen, einen Einfluss auf die zu schützenden Insektenbestände und die Pflanzenwelt.“ Die Anzahl der nachgewiesenen Pestizide steige in intensiv landwirtschaftlich genutzten Gebieten an. Dr. Brühl bemängelt, dass Belastungen mit Pestizidmischungen bisher in der Zulassung weder untersucht noch berücksichtigt werden. Die Studie ergab auch, dass Insekten aus den Schutzgebieten weiter fliegen als gedacht. Sie steuerten sowohl weiter entferntere Nutzpflanzen an, z.B. zur Rapsblüte, aber auch Pollen von Gartenpflanzen waren bei ihnen nachweisbar.

„Die Ergebnisse des Forschungsprojektes zeichnen ein alarmierendes Gesamtbild: Selbst in Naturschutzgebieten schreitet der Verlust von Artenvielfalt und Lebensräumen ungebremst voran“, warnt NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger. „Damit die Trendumkehr beim Insektensterben gelingen kann, muss die Belastung durch Pestizide in der gesamten Landschaft halbiert werden. In den besonders sensiblen Schutzgebieten gehört ihr Einsatz untersagt.“ Aus den Erkenntnissen des DINA-Projekts leiteten die Forschungsinstitutionen drei zentrale Empfehlungen zum wirksamen Schutz der Insektenvielfalt ab. Zum einen müsse das Thema Biodiversität bei der Zielsetzung und Planung von Schutzgebieten priorisiert werden. Damit die biologische Vielfalt dort auch wirklich geschützt werde, müsse die umliegende landwirtschaftliche Nutzfläche einbezogen werden, etwa wenn Maßnahmen geplant werden. Risikoanalysen und Landschaftsplanung müssen zudem die Randeffekte und Umgebungseinflüsse in einen Radius von mindestens 2 km um die Schutzgebietsgrenzen berücksichtigen. Ziel muss die Verminderung der Kontaktlinien mit Ackerflächen in intensiver Nutzung sein. Zweitens brauche es ein bundesweites Monitoring sowie Pestizidanalysen, um die Risiken für die Insektenbestände besser abschätzen zu können. Dabei müssen besonders schützenswerte Gebiete priorisiert werden. Und drittens bedarf es der Mitwirkung aller relevanten Akteur*innen aus Landschaftspflege, Landwirtschaft, Naturschutz, Politik und Zivilgesellschaft, damit Maßnahmen auf lokaler Ebene wirksam umgesetzt werden. Kooperativ erarbeitete Maßnahmen innerhalb und im Umfeld der Schutzgebiete sind strukturell und finanziell zu fördern, insbesondere durch die Ausgestaltung geeigneter Förder- und Beratungsinstrumente. “Die Notwendigkeit des Insektenschutzes ist allgemein akzeptiert und bedingt interdisziplinäre Lösungsansätze, die ökologische, ökonomische und soziale Aspekte miteinander verknüpfen“, sagte Prof. Dr. Wiltrud Terlau von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. „Die Rahmenbedingungen sind entscheidend. Landwirte als Hauptbeteiligte drängen auf mehr Wertschätzung und Planungssicherheit sowie eine höhere finanzielle Unterstützung und Flexibilität zur Umsetzung biodiversitätsfördernder Maßnahmen“, betonte die Professorin. „Eine Zusammenarbeit aller Beteiligten ist unerlässlich.“ (ab)

10.04.2023 |

Fleischverzehr in Deutschland sinkt 2022 auf 30-Jahres-Tiefstand

VegBur
Ofenbar griffen die Deutschen häufiger zum Veggie-Burger (Foto: CC0)

In Deutschland wird so wenig Fleisch gegessen wie seit 31 Jahren nicht mehr: Die Bundesbürger*innen verzehrten 2022 im Durchschnitt „nur“ noch 52 Kilogramm Fleisch pro Kopf und damit vier Kilo weniger als noch im Vorjahr und sogar 8 Kilo weniger als noch 2017. Das zeigen Berechnungen des Bundesinformationszentrums Landwirtschaft (BZL) für das Jahr 2022, die am 3. April veröffentlicht wurden und noch als vorläufig bezeichnet werden. Der bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) angesiedelte Informationsdienstleister vermeldet, dass es sich um einen historischen Tiefstand seit Einführung des Datensatzes mit der Wiedervereinigung 1989 handelt. Der Pro-Kopf-Verzehr hatte sich nach der Wende zwischen 60 bis 63 Kilogramm eingependelt, fiel 2019 erstmals unter die 60-Kilo-Marke und sinkt seither stetig. Als mögliche Ursache für den rückläufigen Fleischverzehr wird die anhaltende Tendenz zu einer pflanzenbasierten Ernährung genannt.

In der Bundesrepublik wurde 2022 Fleisch mit einem Schlachtgewicht von insgesamt rund 7,6 Millionen Tonnen erzeugt. Im Vergleich zu 2021, als sich die Nettoerzeugung noch auf 8,3 Millionen Tonnen belief, ist dies ein Rückgang um 8,3%. Deutschland führt deutlich mehr Fleisch, Fleischwaren und Konserven aus als importiert werden: 2022 standen Einfuhren in Höhe von 2,7 Millionen (+5,4% im Vergleich zum Vorjahr) Exporten von 3,8 Millionen Tonnen Fleisch- und Fleischwaren gegenüber (-3,3%). Die in einer Excel-Datei veröffentlichten Zahlen reichen zurück bis 1991. Während die Einfuhren seit 1991 um 45% stiegen und sich mit Beginn der 2000er-Jahre recht stabil zwischen 2,2 und 2,5 Millionen Tonnen einpendelten, haben sich die Fleischexporte im Vergleich zu 1,32 Millionen Tonnen in 1991 mittlerweile fast verdreifacht. Schweinefleisch ist der Exportschlager: Während Deutschland 1991 noch dreimal so viel Schwein einführte (822.000 Tonnen) wie ausführte (254.400 Tonnen), wuchs die Exportmenge seither kontinuierlich an, erreichte 2016 einen Höchststand von 2,5 Millionen Tonnen und hat sich in den letzten drei Jahrzehnten insgesamt fast verachtfacht.

2022 standen in Deutschland letztendlich 6,51 Millionen Tonnen Fleisch für den Verbrauch zur Verfügung. Das waren 77,5 Kilo pro Kopf und damit 4,2 Kilo weniger als noch 2021. In diesen Werten sind neben dem Nahrungsverbrauch auch die Anteile für Futter sowie industrielle Verwertung und Verluste (inklusive Knochen) enthalten. Der menschliche Verzehr, also das Schlachtgewicht ohne Verluste und industrielle Verwertung, lag letztes Jahr bei den eingangs genannten 52 Kilogramm. Schweinefleisch ist nach wie vor das beliebteste Fleisch der Deutschen: Rein rechnerisch verzehrte jeder immer noch 29 Kilo im Jahr, gefolgt von Geflügel mit 12,7 Kilo und Rindfleisch mit 8,7 Kilo. In den letzten drei Jahrzehnten zeigte sich jedoch eine deutliche Trendumkehr: Während der Hunger auf Schwein nachließ und seit 1991 um mehr als 10 Kilo pro Kopf zurückging, nahm der Konsum von Geflügelfleisch um 5,4 Kilogramm pro Bundesbürger*in zu. Laut den Zahlen für 2022 hat Deutschland bei Fleisch einen Selbstversorgungsgrad (SVG) von 116% und deckt durch die Produktion somit deutlich mehr als den inländischen Verbrauch ab. Im Vorjahr hatte der Wert noch bei 118% gelegen. Beim Schweinefleisch betrug der Selbstversorgungsgrad sogar 125,8% (2021: 132,4%). Bei Rind- und Kalbfleisch waren es 2022 hingegen 94,8% und bei Geflügelfleisch 97,4%. Gar keinen Appetit haben die Deutschen hingegen auf Innereien: Hier lag der SVG bei 439,5%. Was nicht zu Tierfutter verwurstet werden kann, wird exportiert. Das BZL kündigte in der Pressemitteilung zudem an, dieses Jahr noch die Methodik zur Berechnung der Versorgungsbilanz anzupassen. Die künftigen Zahlen werden somit nicht mehr mit den bisherigen Werten vergleichbar sein und die Datensätze der letzten zehn Jahre sollen daher basierend auf der neuen Methodik nachberechnet werden. (ab)

15.03.2023 |

Einspruch gegen KWS-Patent auf Mais aus konventioneller Züchtung

KWS
Protest gegen KWS-Patente im Dezember 2022 (Foto: Falk Heller)

Das Bündnis „Keine Patente auf Saatgut!“ hat Einspruch gegen ein Patent der Saatgut-Firma KWS auf Mais aus konventioneller Züchtung eingelegt. Das vom Europäischen Patentamt EPA im Juni 2022 erteilte Patent erstreckt sich auf Maispflanzen mit einer verbesserten Verdaulichkeit, deren Ernte und die daraus hergestellten Futtermittel. Doch diese Eigenschaft wurde nicht mithilfe von Gentechnik erzielt, sondern es handelt sich um zufällig veränderte Genvarianten, die entdeckt und von KWS mit konventionellen Züchtungsmethoden in die patentierten Sorten eingezüchtet wurden. Außerdem umfasst das Patent die Verwendung von natürlich vorkommenden Genvarianten für die konventionelle Züchtung. Das Bündnis, dem mehrere europäische Nichtregierungsorganisationen angehören, sieht dadurch die konventionelle Züchtung bedroht. „Patente auf Saatgut behindern den Zugang zur biologischen Vielfalt und beenden die Freiheit in der traditionellen Pflanzenzucht“, sagt Katherine Dolan vom österreichischen Verein Arche Noah. „Damit gefährden die Konzerne die Grundlagen der Nahrungsmittelsicherheit in Europa.“

Das Patent EP3560330 B1 trägt den Namen „Pflanzen mit verbesserter Verdaulichkeit und Markerhaplotypen“ und wurde am 15.06.2022 im Bulletin 2022/24 des EPA veröffentlicht. In der Einspruchsschrift merkt „Keine Patente auf Saatgut!“ an, dass die Beschreibung des Patents verschiedene Beispiele für Anwendungen mit und ohne Gentechnik beinhaltet. Es werde so der Eindruck erweckt, dass in erster Linie gentechnische Verfahren eingesetzt würden, die nach dem europäischen Patentrecht durchaus patentierbar sind. Doch KWS beansprucht auch die Nutzung der natürlicherweise vorkommenden Genvarianten zur Auswahl von Pflanzen im Rahmen der konventionellen Züchtung. Einige Ansprüche erstrecken sich auch auf Pflanzen, die mit diesen Verfahren ausgewählt werden. Zudem werden auch Pflanzen mit nach dem Zufallsprinzip mutierten Genen beansprucht. Das Bündnis kritisierte schon seit Langem die umstrittene Praxis des EPA, Patente auf konventionell gezüchtete Pflanzen und Tiere zu erteilen, obwohl im europäischen Patentrecht diese Patente auf „im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren“ untersagt sind. Im Juni 2017 hatte das EPA auf öffentlichen Druck hin ein Ende der Praxis angekündigt und 2020 wurde dies durch eine Entscheidung der großen Beschwerdekammer des EPA bestätigt (G3/19). Mit dem KWS-Maispatent erteilte das EPA jedoch auch nach Erlass der neuen Regel 28(2) im Europäischen Patentübereinkommen (EPÜ) erneut ein Patent auf konventionell gezüchtete Pflanzen. „Patentierbar sind nur technische Erfindungen, nicht aber die genetische Vielfalt und das Saatgut konventionell gezüchteter Pflanzen! sagt Christoph Then für Keine Patente auf Saatgut!. „Das Patentamt verstößt mit solchen Patenten auf Saatgut gegen seine eigenen Rechtsgrundlagen.“

Der Zankapfel sind Patente, die auf zufälligen genetischen Veränderungen basieren, wie sie etwa durch UV-Strahlung bzw. Sonnenlicht ausgelöst werden, und die als technische Erfindung beansprucht werden. Das EPA setzt diese zufälligen Mutationen offensichtlich mit gentechnischen Veränderungen gleich. Im Einspruch legt „Keine Patente auf Saatgut!“ dar, warum diese Auslegung als nichtzutreffend erachtet wird. Zuletzt hatte sich auch der Bundesverband der Pflanzenzüchter (BDP) gegen Patente auf natürlicherweise vorkommende Genvarianten ausgesprochen. In Österreich soll das nationale Patentrecht so geändert werden, dass zufällige Mutationen nicht länger als technische Erfindungen beansprucht werden können. „Keine Patente auf Saatgut!“ fordert nun, dass auch der EPA-Verwaltungsrat, in dem Vertreter*innen der 39 Mitgliedsländer sitzen, eine korrekte Auslegung des europäischen Patentrechts sicherstellt. Mit dem Einspruch hofft das Bündnis, eine Klärung der rechtlichen Lage erwirken zu können, um die Vergabe solcher Patente zu stoppen. Andernfalls befürchten die Mitglieder eine Blockade der traditionellen Züchtung, da konventionelle Pflanzenzüchter*innen nicht mehr alle auf dem Markt befindliche Sorten nutzen könnten, um Sorten zu verbessern und zu vermarkten. Das Bündnis befürchtet, dass Züchter*innen eine Patentlizenz benötigen würden, um ihre eigenen Sorten zu vermarkten. „Mittelständische Zuchtunternehmen geraten in neue Abhängigkeiten und werden mit großen rechtlichen Unsicherheiten und erheblichen Kosten konfrontiert“, bemängelt Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) e.V.. „Unter diesen Bedingungen können nur die großen Konzerne überleben, die dann bestimmen was angebaut und geerntet wird. Das würde auch für die bäuerlichen Betriebe in Europa und den Ländern des globalen Südens erhebliche Auswirkungen haben.“

Bereits Anfang Dezember hatte „Keine Patente auf Saatgut!“ anlässlich der Jahreshauptversammlung der Firma KWS in Einbeck (Niedersachsen) protestiert, da KWS in den letzten Jahren vermehrt Patente auf konventionell gezüchtete Pflanzen angemeldet hatte. Die beanspruchten Eigenschaften betreffen wichtige züchterische Merkmale wie Resistenzen gegen Pflanzenkrankheiten, Viren und Pilzbefall, gegen Schädlinge wie Nematoden oder Toleranz gegen Klimaextreme. In einem Bericht zu den Patenten von KWS zeigte das Bündnis auf, welche Risiken derartige Patente für die Pflanzenzucht bergen. Behandelt wird zum Beispiel ein Patentantrag auf Zuckerrüben mit Resistenz gegen die Blattfleckenkrankheit, die zwar auch mithilfe von CRISPR/Cas (neue Gentechnik) erzielt wurde, die aber eben auch durch zufällige Mutationen entstanden ist. „Damit werden die technischen und rechtlichen Unterschiede zwischen Gentechnik und konventioneller Zucht gezielt und systematisch verwischt“, so der Bericht. „Die KWS sollte auch aus eigenem Interesse ihre Patente zurückziehen oder diese strikt auf gentechnische Verfahren begrenzen“, fordern die Autor*innen. „Anstatt das Patentrecht auf Bereiche auszuweiten, für die es nie gedacht war, sollte sich die KWS auf ihre Verantwortung für die Zukunft der Pflanzenzucht besinnen und sich auch aus ihrer Verantwortung gegenüber Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung für wirksame Verbote im Patentrecht einsetzen.“ (ab)

24.02.2023 |

Synthetische Pestizide viel gefährlicher als natürliche Wirkstoffe

Salat
Was und wie viel landet auf dem Acker? (Foto: CC0)

Schon seit Längerem rücken Berichte und Studien zum Verlust der Artenvielfalt und dem Zusammenhang zu Landnutzung und Pestizideinsatz zunehmend in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Spätestens seit sich die EU mit dem Grünen Deal und ihrer „Farm to Fork“-Strategie die Ziele gesteckt hat, den Ökolandbau in der EU bis 2030 auf 25 % der Agrarfläche auszuweiten und den Einsatz und das Risiko von chemisch-synthetischen Pestiziden zu halbieren, hat die politische und gesellschaftliche Debatte über die Art und Zukunft der Landwirtschaft wieder an Fahrt aufgenommen. Die europäische Pestizidindustrie sieht ihre Felle bzw. heimischen Absatzmärkte davonschwimmen und behauptete, dass im Ökolandbau Wirkstoffe verwendet würden, die ähnlich giftig seien wie synthetische Pestizide. In einer Stellungnahme zur „Farm to Fork“-Strategie schrieb sie, dass mehr Ökolandbaus zum „Anstieg des Gesamtvolumens des Pestizideinsatzes in Europa“ führe, „da einige Produkte, die im Ökolandbau oft genutzt würden, in viel größeren Mengen ausgebracht werden müssen als sparsamere chemische Alternativen“. Diese Behauptung unterzog nun die österreichische Umweltschutzorganisation GLOBAL 2000 im Auftrag von „IFOAM Organics Europe“ einem Faktencheck. Gemeinsam mit Professor Dr. Johann Zaller von der Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien führte sie einen systematisch toxikologischen Vergleich durch, der Ende Dezember im Wissenschaftsjournal „Toxics“ veröffentlicht wurde. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass 55 % der in der konventionellen Landwirtschaft verwendeten Pestizide Hinweise auf Gesundheits- oder Umweltgefahren tragen, während es bei den im Ökolandbau zugelassenen natürlichen Wirkstoffen nur 3 % waren.

Untersucht wurden in der Studie 256 Wirkstoffe (Active Substances = AS), die in der konventionellen Landwirtschaft zugelassen sind, sowie 134 natürliche Wirkstoffen, die auch in der Biolandwirtschaft in Europa erlaubt sind. Gegenstand der Bewertung waren nur Wirkstoffe, die für die Verwendung auf landwirtschaftlichen Flächen bestimmt sind, während Stoffe, die in der Nacherntebehandlung oder -lagerung verwendet werden, nicht einflossen. Alle Wirkstoffe wurden hinsichtlich ihrer Gefahrenpotentiale und Risiken sowie der Häufigkeit ihrer Verwendung analysiert. Als Maßstab für den Vergleich dienten die von der Europäischen Chemikalienagentur (EChA) festgelegten Gefahrenklassifizierungen des Global Harmonisierten Systems (GHS) sowie die von der Europäischen Behörde für Ernährungssicherheit (EFSA) im Zulassungsverfahren festgelegten ernährungs- und arbeitsmedizinischen Richtwerte. Von den synthetischen Pestizidwirkstoffen trugen 55 % (140 der 256 Wirkstoffe) zwischen einem und neun Gefahrenhinweisen auf Gesundheits- oder Umweltgefahren. Bei den natürlichen Wirkstoffen waren es nur 3 % oder vier der 134 natürlichen Wirkstoffe. Insgesamt stehen 8 % der in der konventionellen Landwirtschaft zugelassenen Wirkstoffe im Verdacht, das ungeborene Kind zu schädigen und 7 % wird eine krebserzeugende Wirkung zugeschrieben. Weitere 7 % können Organschäden verursachen, 5 % sind beim Verschlucken giftig und 3 % sind beim Verschlucken tödlich. Keine der oben genannten Gefahrenklassifizierungen findet sich bei den derzeit zugelassenen natürlichen Wirkstoffen, die im Ökolandbau erlaubt sind. Des Weiteren wurden 40 % der synthetischen Pestizid-Wirkstoffe als sehr giftig für Wasserorganismen eingestuft, aber nur 1,5 % der natürlichen Wirkstoffe, nämlich die beiden Insektizide Pyrethrine und Spinosad. Was die chronische aquatische Toxizität betrifft, so waren 50 % oder 127 konventionelle Pestizide schädlich, giftig oder sehr giftig für Wasserlebewesen mit lang anhaltenden Wirkungen. Bei den natürlichen Wirkstoffen waren es nur 1,5 % oder zwei - wieder die Wirkstoffe Pyrethrine und Spinosad, welche die Übertragung von Nervenimpulsen hemmen.

Außerdem wurden die gesundheitlichen Richtwerte untersucht, die sich auf die annehmbare tägliche Aufnahmemenge (ADI) für die regelmäßige Aufnahme über die Nahrung, die akute Referenzdosis (ArfD) für den sicheren Verzehr einer Mahlzeit und die annehmbare Anwenderexposition (AOEL) für die sichere nicht-alltägliche Exposition gegenüber Pestiziden beziehen. Die Festlegung von ernährungs- und arbeitsmedizinischen Richtwerten hielt die EFSA bei 93 % der konventionellen, aber nur bei 7 % der natürlichen Wirkstoffe für angebracht. Bei den im Ökolandbau zugelassenen Wirkstoffen wurden für die Insektizide Spinosad, Pyrethrine und Azadirachtin sowie das Fungizid Thymol die niedrigsten annehmbaren Werte für die ernährungsbedingte und nicht-ernährungsbedingte Exposition festgestellt. Sie lagen im Bereich zwischen 0,1 und 0,01 mg/kg Körpergewicht. Die niedrigsten annehmbaren Expositionswerte bei den konventionellen Pestiziden waren deutlich niedriger (zwischen 0,001 und 0,0001 mg/kg Körpergewicht) und betrafen die synthetischen Herbizide Tembotrion, Sulcotrion, Fluometuron, Metam (ebenfalls ein Nematizid, Insektizid und Fungizid) und Diclofop, sowie die zwei Insektizide Emamectin und Oxamyl. „Die Unterschiede, die wir festgestellt haben, sind ebenso signifikant wie wenig überraschend, wenn man die Herkunft der jeweiligen Pestizidwirkstoffe genauer betrachtet“, erklärt Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker von GLOBAL 2000 und Erstautor der Studie: „Während rund 90 % der konventionellen Pestizide chemisch-synthetischen Ursprungs sind und Screening-Programme durchlaufen haben, um die Substanzen mit der höchsten Toxizität (und damit höchsten Wirksamkeit) gegenüber den Zielorganismen zu identifizieren, handelt es sich beim Großteil der natürlichen Wirkstoffe gar nicht um Stoffe im eigentlichen Sinn, sondern um lebende Mikroorganismen.“ Dazu gehören etwa Bakterien oder Pilze. „Diese machen 56 % der zugelassenen ‘Bio-Pestizide’ aus. Als natürliche Bodenbewohner haben sie keine gefährlichen Stoffeigenschaften“, fügt er hinzu. Weitere 19 % der Bio-Pestizide seien von vornherein als „Wirkstoffe mit geringem Risiko“ (z.B. Backpulver) eingestuft oder als Grundstoffe (z.B. Sonnenblumenöl, Essig, Milch) zugelassen.

„Es ist klar, dass die in der konventionellen Landwirtschaft zugelassenen synthetischen Wirkstoffe weitaus gefährlicher und problematischer sind als die in der Biolandwirtschaft zugelassenen natürlichen Wirkstoffe“, kommentierte Jan Plagge, Präsident von IFOAM Organics Europe, die Ergebnisse in der Pressemitteilung zur Studie. „Biobetriebe konzentrieren sich auf vorbeugende Maßnahmen wie die Verwendung robuster Sorten, sinnvolle Fruchtfolgen, die Erhaltung der Bodengesundheit und die Erhöhung der Artenvielfalt auf dem Feld, um den Einsatz von externen Betriebsmitteln zu vermeiden. Aus diesem Grund werden auf rund 90 % der landwirtschaftlichen Flächen (vor allem im Ackerbau) keinerlei Pestizide eingesetzt, auch keine natürlichen Stoffe.“ Dies gilt vor allem für Ackerkulturen wie Weizen, Mais, Roggen, Gerste usw, bei denen im konventionellen Ackerbau hingegen routinemäßig Herbizide, häufig Fungizide und je nach Kultur und Witterung auch Insektizide gespritzt würden. Wenn die Schädlinge im Ökolandbau dennoch überhand nehmen, sei der Einsatz von Nützlingen, Mikroorganismen, Pheromonen oder Abschreckungsmitteln die zweite Wahl der Biobäuer:innen. „Natürliche Pflanzenschutzmittel wie die Mineralien Kupfer oder Schwefel, Backpulver oder pflanzliche Öle sind der letzte Ausweg für Spezialkulturen wie Obst und Wein“, betont Plagge. (ab)

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