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15.04.2021 |

Zwei Szenarien für die Zukunft unserer Ernährungssysteme

Weg
Wohin geht die Reise? (Foto: CC0)

Wie wird sich die Welt im Jahr 2045 ernähren und Landwirtschaft betreiben? Bestimmen bald nur noch große Agrarkonzerne, Künstliche Intelligenz und digitale Technik, wie jeder Zentimeter Acker rund um den Globus bestellt wird, oder gelingt der Zivilgesellschaft eine Transformation unserer Agrar- und Ernährungssysteme? Mit dieser Frage befassen sich führende Expert*innen auf dem Gebiet in einem Bericht, der am 30. März erschien. „A Long Food Movement? Transforming Food Systems by 2045” ist der Titel der 176 Seiten starken Zukunftsvision, die mehrere Autor*innen und eine Beratergruppe erarbeiteten. Abgesegnet und herausgegeben haben den Bericht IPES-Food, ein internationales Expertengremium für nachhaltige Lebensmittelsysteme, und die kanadische ETC Group, die sich mit den sozioökonomischen und ökologischen Folgen neuer Technologien befasst. Die Zukunft kann für den Planeten, die Menschen und das Ernährungssystem ganz unterschiedlich aussehen, je nachdem, in welche Richtung wir gehen. Den aktuellen Trend sieht Hauptautor Pat Mooney von der ETC Group kritisch: „Die Schlüssel zu unserem Ernährungssystem werden gerade an Datenplattformen, Private-Equity-Firmen und E-Commerce-Giganten übergeben. Dies ist die Schreckensvision für die Zukunft unserer Ernährung und des Planeten – es sei denn, die Zivilgesellschaft wehrt sich.“

Im ersten Szenario beleuchten die Autor*innen unter dem Schlagwort ‘Agribusiness as usual?’, wie die Lebensmittelsysteme im Jahr 2045 aussehen könnten, wenn das Agribusiness ungehindert seine Ziele verfolgen kann. Agrarkonzerne würden dann die Ernährungssysteme dominieren, die Zerstörung der Umwelt würde sich beschleunigen und die Ernährungssicherheit von Milliarden Menschen könnte von unerprobten Technologien abhängen, die von gewinnorientierten Unternehmen verwaltet werden. Der Bericht widmet sich aktuellen Trends der technologischen Entwicklung und Unternehmenskonsolidierung, prognostiziert aber auch drei künftige Entwicklungen, die die Lebensmittelsysteme bis 2045 prägen könnten, wenn sich das Agrobusiness durchsetzt. Den ersten Trend nennen die Autor*innen „Präzisionsgesteuerte Ökosysteme und das Internet der landwirtschaftlichen Dinge“. Sie prognostizieren, dass Algorithmen die Wachstumsbedingungen jedes fruchtbaren Quadratmeters Erde genau bestimmen werden. Nutzpflanzen und -tiere werden für diese Bedingungen maßgeschneidert und verändert werden. Künstliche Intelligenz (KI) wird dann eingesetzt, um Ökosysteme so umzugestalten, dass sie eine optimale Leistung erbringen, und Robotertraktoren und Drohnen werden so schnell eingeführt, wie es die digitale Infrastruktur erlaubt.

Beim zweiten Trend geht es um „Logistikkorridore, Ressourcenkonflikte und die neue Datengeopolitik“: Künftig werden viele Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen gedrängt werden, Land, Ressourcen und Daten in die Hände jener zu legen, die diese Technologien liefern und bereit sind, Ernten im Voraus zu kaufen. Mächtige Konzerne und Regierungen werden Ressourcen und die Versorgung mit Nahrungsmitteln über riesige Wirtschaftskorridore kontrollieren. Die Freihandelsabkommen der 2020er und 2030er Jahre werden vor allem dazu dienen, Zugang zu Ressourcen und die Rechte von Unternehmen auf Datenverwertung zu sichern. Da Lebensmittel als strategischer Vorteil angesehen werden, droht eine neue Welle von Land-, Meeres- und Ressourcengrabbing. Beim dritten Trend („Extremes Nudging, personalisierte Ernährung und neue Grenzen bei der Gestaltung des Esserlebnisses“) stehen die Verbraucher im Fokus: Daten aus alltäglichen Transaktionen (digitale Geldbörsen bis hin zu automatisierten Lebensmitteldiensten) werden zunehmend mit online gesammelten Informationen kombiniert, um die Essgewohnheiten der Menschen zu tracken und manipulieren und so die Esskulturen neu zu gestalten.

Doch es gibt ja auch noch eine hoffnungsvollere Perspektive: Im zweiten Szenario unter dem Schlagwort ‚Civil Society As Unusual‘ stellen sich die Autor*innen eine Welt vor, in der es der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen gelingt, Finanzströme, Governance-Strukturen und Ernährungssysteme von Grund auf zu verändern. Das würde voraussetzen, dass diese Bewegung – von Basisorganisationen bis zu internationalen NGOs, von Bauerngruppen bis hin zu Kooperativen und Gewerkschaften – in den nächsten 25 Jahren tiefere, breitere und effektivere Kooperationen als je zuvor entwickelt, die kollektive Aktivitäten und übergreifende Strategien beinhaltet. „Die Zivilgesellschaft und die sozialen Bewegungen müssen Jahrzehnte vorausdenken. Wir müssen auf künftige Schocks vorbereitet sein. Weder kurzfristige Aktionen noch langfristige Planung können warten. Deshalb brauchen wir eine langfristige Ernährungsbewegung“, sagte Lim Li Ching von Third World Network, die an dem Bericht mitgewirkt hat.

Dieses zweite Szenario umfasst vier miteinander verknüpfte Pfaden der Reform und Transformation der Ernährungssysteme: (1) Vielfalt, Agrarökologie und Menschenrechte als Basis der Ernährungssysteme (2) Transformation von Governance-Strukturen, (3) Veränderung der Finanzströme und (4) Überdenken der Art der Zusammenarbeit von NGOs. Die Autoren beschreiben außerdem 13 strategische Möglichkeiten innerhalb dieser Pfade, die auf dem beruhen, was bereits geschieht oder erreichbar ist. Zu den Schlüsselstrategien gehört die Umlenkung von Geldern, die bisher in die Subventionierung der Haupt-Agrarrohstoffe, Forschungsausgaben und Nischen-Budgetlinien fließen, hin zu kleinen Lebensmittelproduzent*innen. Um Gelder für Forschung und Entwicklung auf nachhaltige Ernährungssysteme umzulenken, müsste die „Ernährungsbewegung“ den Druck auf bilaterale Geber erhöhen, bei Forschungsprojekte im globalen Süden auf Agrarökologie zu setzen, die Mission der internationalen Agrarforschungszentren (CGIAR) neu auszurichten und ihre eigenen Agrarforschungsprogramme zu reformieren.

Zudem müsse der Wandel hin zu kürzeren Lieferketten und ethischem Konsum beschleunigt werden. Wenn die Lebensmittelbewegung Erfolg hat, würden im Jahr 2045 bis zu 50% der Lebensmittel aus lokalen und regionalen Lieferketten stammen. Die Autoren prognostizieren außerdem, dass bis zu 80% der Menschen in reicheren Bevölkerungsgruppen bis dann von einer fleischlastigen auf eine vegetarische oder flexitarische Ernährung umgestellt haben. Apps werden es den Verbrauchern ermöglichen, schnell und transparent festzustellen, ob ein Produkt aus nachhaltiger Produktion stammt oder von einem „Business-as-usual“-Konzern. Weitere Schlüsselstrategien sind die Erhebung von Steuern auf Junk Food, giftige Stoffe, CO2 und die Gewinne multinationaler Konzerne sowie das Ergreifen von Sofortmaßnahmen zur Ernährungssicherung, die Priorität haben vor Regeln für Handel oder zum Schutz geistigen Eigentums. Hungersnöte, Mangelernährung und Umweltzerstörung könnten 2045 als kriminelle Verstöße international geahndet werden.

Durch das Beschreiten dieser vier Pfade der von der Zivilgesellschaft angeführten Transformation des Lebensmittelsystems könnten insgesamt 4 Billionen US-Dollar von der industriellen Lebensmittelproduktion auf Ernährungssouveränität und Agrarökologie umgeschichtet werden. Eingerechnet sind hier $720 Milliarden an Subventionen für große Rohstoffproduzenten und 1,6 Billionen an Einsparungen im Gesundheitswesen durch ein hartes Vorgehen gegen Junk Food. Unter diesem Szenario würden 75% der Treibhausgasemissionen der Ernährungssysteme vermieden werden. „Die Zivilgesellschaft kann und muss sich verändern“, schlussfolgern die Autoren*innen. „Die Geschichte zeigt, dass sich Menschen fast über Nacht anpassen können, wenn sich die Notwendigkeit oder Gelegenheit ergibt. (...) Die gewaltigen Veränderungen, die die Gesellschaft durch die Anpassung an COVID-19 erfahren hat (...) zeigen, dass künftig alles möglich ist.“ (ab)

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